Produkthaftungsrichtlinie: Bekannt und bewährt. Und doch bearbeitet.

Produkthaftungsrichtlinie: Bekannt und bewährt. Und doch bearbeitet.

Abbildung 1

Drohende disclosure-Vorgaben im Prozessrecht: Gefahr für faire Balance zwischen strenger Beweislastverteilung und verschuldensunabhängiger Gefährdungshaftung im Produkthaftungsstreit

37 Jahre lag sie friedlich und unberührt in den Archiven des Europäischen Amtsblatts: Die EG-Produkthaftungsrichtlinie 85/374/EWG. Nun, im Herbst 2022, hat die Kommission – nach längerem Anlauf – einen Entwurf für die Überarbeitung der Produkthaftungslinie vorgelegt. Sobald sie final verabschiedet sein wird, bleibt den Mitgliedstaaten nur ein Jahr Zeit für die notwendigen Anpassungen der ja ohnehin vorhandenen nationalen Produkthaftungsgesetze. Freiwilliger Nachvollzug, wie etwa in der Schweiz, dürfte ebenfalls folgen.

Um mit dem Kracher aus Industriesicht anzufangen: Die Kommission schlägt in Art. 8 eine disclosure of evidence vor, die einen evidenten Eingriff in praktisch alle kontinentaleuropäischen Zivilprozessrechte bedeuten würde. Dazu sieht der Entwurf vor, dass ein Anspruchsteller im gerichtlichen Verfahren die Möglichkeit haben soll, relevante Unterlagen vom Anspruchsgegner vorgelegt zu bekommen – jedenfalls dann, wenn er im Verfahren soweit Fakten und Belege vorgelegt hat, die den Schadensersatzanspruch plausibilisieren. Das geht natürlich weit vom Beibringungsgrundsatz weg und massiv über § 142 ZPO hinaus. Diese Berechtigung führt vielmehr in Anlehnung an angloamerikanische disclosure-Verfahren zu einer rechtspolitischen wie rechtskulturellen Änderung der produkthaftungsrechtlichen Auseinandersetzung: Die bisher ebenso eindeutige wie strenge Beweislastverteilung wurde ja gerade mit der strikten verschuldensunabhängigen Gefährdungshaftung gerechtfertigt; diese faire Balance würde empfindlich aus dem Gleichgewicht gebracht, wenn disclosure-Vorgaben an das nationale Prozessrecht wirklich kämen. Man wird abwarten dürfen, inwieweit sich die europäische Industriepolitik diesen Schlag auf den Hinterkopf aus heiterem Himmel gefallen lassen wird. Die Aufregung ist jedenfalls schon jetzt groß, zumal ein ebengleiches Verfahren zur disclusure of evidence auch in der KI-Haftungsrichtlinie vorgesehen ist, die am selben Tag von der Kommission ebenfalls als Entwurf vorgestellt wurde.

Andere Aspekte des Richtlinienentwurfs sind weniger spektakulär, aber hinreichend modern: So wird ein ewiger juristischer Streit über die Frage, ob Software ein Produkt im Sinne der alten Produkthaftungsrichtlinie 85/374/EWG war oder nicht, mit einem Federstrich des Gesetzgebers beendet, weil bejaht: Art. 4 (1) des Entwurfs definiert eindeutig, dass reine Software ein Produkt ist. Im verkörperten Zustand war dies schon immer unstreitig, wird dann aber auch für Cloud-basierte Algorithmen gelten. Interessant ist zudem die Auswirkung auf den 3D-Druck; derselbe Artikel definiert auch CAD-Programme als Produkte im Rechtssinne.

Wie in den verschiedensten regulativen Vorgaben an die europäische Marktüberwachung wird sich nun auch in der zukünftigen Produkthaftungsrichtlinie der Fulfillment-Servicedienstleister wiederfinden: Im öffentlich-rechtlichen Produktsicherheitsrecht ist er ersatzweise Ansprechpartner für behördliche Marktüberwachungsmaßnahmen; im neuen Produkthaftungsrecht wird er ersatzweise Haftungsgegner sein, falls Hersteller, Bevollmächtigter und Importeur außerhalb der Europäischen Union ansässig sind.

Interessant sind zwei Änderungen im gesetzlich definierten Fehlerbegriff. Nach Art. 6 1. (c) sollen für die Definition des Fehlerbegriffes die Möglichkeit des Geräts einbezogen werden, nach Inbetriebnahme “zu lernen” (was immer das heißen mag). Damit sollen wohl neuronale Netze und selbstlernende Algorithmen als Embedded Software angesprochen werden. Erstaunlich undefiniert ist die weitere Neuerung, dass zum Fehlerbegriff nach Art. 6 1. (f) auch sicherheitsrelevante Cybersecurity-Anforderungen zählen sollen: Abgesehen davon, dass unklar bleibt, wer diese Anforderungen generiert, bleibt für mich auch ein großes Unbehagen, wieso eine mangelnde Resilienz gegen vorsätzliche und rechtswidrige Schädigungsangriffe Dritter nolens volens ein Leistungsmerkmal eines Produktes sein soll.

Schließlich wird nun auch im europäischen Produkthaftungsrecht aufgenommen, was in den technikrechtlichen Regulierungen der EU seit Jahren ein bekanntes Regelungsphänomen ist, nämlich die “wesentliche Änderung”. Insbesondere in der europäischen Maschinenrichtlinie 2006/42/EWG hat der substantielle Eingriff in den Wirkmechanismus und die Sicherheitsarchitektur eines längst in Verkehr gebrachten Produkts seit langem alle Beteiligten beschäftigt. Schwere Unfälle waren für Berufsgenossenschaften, Arbeitsschutz- und Marktüberwachungsbehörden häufig nur damit erklärbar, dass der einstmals sichere Auslieferungszustand durch manipulative Eingriffe in das technische Sicherheitsdesign vor Ort beeinflusst sind. Diese “wesentliche Veränderung” hat sich bis in ministerielle non-papers gezogen. Sie wäre in der deutschen Produzentenhaftung nach § 823 BGB deliktisch erfasst, wird nun aber auch im Produkthaftungsrecht zu einem eigenen regulierten Haftungstatbestand.

Zu erwähnen bleibt abschließend, dass nach Art. 15 des Entwurfes die Kommission eine Datenbank aufbauen möchte, in die – für die interessierte Öffentlichkeit frei zugänglich – alle nationalen Gerichturteile jeder Instanz veröffentlicht werden sollen, die nach nationalen Umsetzungsakten zur neuen Produkthaftungsrichtlinie entschieden werden. Damit werden dann auch die nationalen Gerichte zugleich verpflichtet, produkthaftungsrechtlich relevante Entscheidungen in einem einfach zugänglichen elektronischen Format zu veröffentlichen. Das kann nur begrüßt werden!

Prof. Dr. Thomas
Klindt
, RA/FAVerwR, ist Partner bei Noerr PartG mbB am Standort München. Er weist als Industrieanwalt große Erfahrung in der Behandlung produkthaftungsrechtlicher Krisenszenarien auf. Er lehrt europäisches Produkt- und Technikrecht an der Universität Bayreuth. Zudem ist er u. a. Mitglied im Herausgeberbeirat der Zeitschrift zum Innovations- und Technikrecht (InTeR) sowie Mitherausgeber der Zeitschrift Recht Automobil Wirtschaft (RAW), die beide in der Deutschen Fachverlag GmbH, Fachbereich Recht und Wirtschaft, erscheinen.

Klindt, BB 2022, Heft 49, Umschlagteil, I