Die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands leidet, die Wohlstandsmaschine stottert
Nur wenn die Politik Strukturreformen systematisch angeht, lassen sich Innovations- und Wachstumsdynamik wiedergewinnen
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts erlebte Deutschland eine lange Phase wirtschaftlicher Stabilität. Es gab auch damals fundamentale Krisen – Bankenkrise, Euro-Krise und andere. Aber Deutschland galt im Ausland wie auch in der eigenen Bevölkerung und Wirtschaft als Beispiel für einen souveränen Umgang mit den Herausforderungen. Dieser Eindruck bestand fort, als mit der Corona-Pandemie erneut eine unerwartete Situation zu bewältigen war. Bei genauerem Hinsehen zeigten sich allerdings Schwächen: massive Probleme bei der Datenerfassung und ein Scheitern bei dem Versuch, evidenzbasierte Schlussfolgerungen zu ziehen. Beides hatte dieselbe Ursache: eine anachronistische Erfassung und Verarbeitung von Daten, fehlende Digitalisierung der Behörden und eine völlig unzureichende Zusammenarbeit zwischen den Verwaltungsebenen von Bund und Ländern.
Heute – im zweiten Jahr des durch den Aggressor Russland ausgelösten Kriegs in der Ukraine mit dessen globalen Verwerfungen und inmitten eines äußerst ambitionierten Transformationsprozesses zur Dekarbonisierung des gesamten Lands – hat sich das Bild vollends gedreht: Ernüchterung und Skepsis – Deutschland in der Rezession und im Abstieg.
Zukunftspessimismus nach dem Motto, für kommende Generationen kann es nie mehr so gut werden wie in den vergangenen Jahrzehnten, ist aber weder rational noch in irgendeiner Weise motivierend. Dass wir schwierige Zeiten erleben und sie nur mit energischem Umsteuern meistern werden, ist dagegen nicht von der Hand zu weisen.
Tatsache ist: Produktion und Wertschöpfung in Deutschland geraten immer mehr ins Hintertreffen, und Neu-Investitionen werden immer häufiger im Ausland statt im Inland getätigt. Die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands leidet. So sieht der Internationale Währungsfonds (IWF) Deutschland am Ende des Geleitzugs der großen Industrieländer. Gerade der exportstarke industrielle Sektor als eigentliche Wohlstandsquelle des Landes stottert.
Zwar gibt es einige große Einzelinvestitionen, etwa in der Mikroelektronik. Diese entspringen einer resilienzgetriebenen Diversifizierungsstrategie und verbessern Technologieverfügbarkeit in einem höchst wichtigen Bereich, sind zugleich aber mit massiven staatlichen Subventionen erkauft. Ein Beleg für die Attraktivität und Dynamik der industriellen Exportbasis Deutschlands in ihrer Breite sind sie nicht.
Wettbewerbsfähigkeit schwindet nicht ohne Grund. Wir haben uns beim Energie- und Rohstoffbezug wirtschaftlich in Abhängigkeiten begeben, uns bezüglich unserer Sicherheit weitestgehend auf den Schutzschild der USA verlassen, im eigenen Land durch überbordende Bürokratie selbst gefesselt und mit Spitzenwerten bei den Unternehmenssteuern ins Abseits manövriert.
Jetzt haben es Staat, Unternehmen und Zivilgesellschaft mit drei immensen Herausforderungen zugleich zu tun:
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Die seit langem bekannte demographische Entwicklung verschärft den Fachkräftemangel bei uns immer weiter. Sie lässt sich auf Teilgebieten durch gesteuerte Zuwanderung, Produktivitätssteigerung und erhöhte Mobilisierung von vorhandener Arbeitskraft abmildern, aber nicht in jeder Hinsicht bewältigen. Die Sozialsysteme ächzen, und nahezu überall fehlen Arbeitskräfte. Humankapital – so technokratisch dieser Begriff auch klingen mag – ist zum limitierenden Faktor für Investitionen und Wachstum geworden.
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Wir müssen den Resilienzerfordernissen einer zunehmend von Konflikt und Rivalität geprägten Welt entsprechen, ohne uns von globaler Vernetzung und Handel zu verabschieden. Das Schlagwort De-Risking statt De-Coupling ist im Kontext mit China in aller Munde. Allgemein geht es um mehr Diversifizierung. Die ist kostenintensiv und nicht von heute auf morgen erreichbar.
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Wir müssen uns dem Klimawandel entgegenstellen und streben die weitgehende Dekarbonisierung von Wirtschaft, Verwaltung, Infrastruktur und privatem Sektor in kürzester Zeit an. Das Mammutprojekt erfordert nicht nur enorme Investitionen in die Transformation, sondern auch Kapazitäten in Stromerzeugung, Infrastruktur, produzierendem Gewerbe, Handwerk und Beratung, die längst nicht überall vorhanden oder rasch zu mobilisieren sind. Zudem entwertet die Dekarbonisierung einen vorhandenen Kapitalstock, teils weit vor seinem technischen Nutzungsende, z. B. im Gebäudebestand.
Diese Herausforderungen drohen Staat, Wirtschaft und Gesellschaft dreifach zu überfordern: finanzielle Überlastung durch die Gleichzeitigkeit und die riesige Dimension der privaten und öffentlichen Investitionserfordernisse. Legislative und exekutive Überforderung durch eine nicht mehr beherrschbare Bürokratie mit immer detaillierterem Regulierungsregime. Und gesellschaftliche Überforderung durch das wachsende Empfinden in der Bevölkerung, der Transformation und der Komplexität des Alltags nicht mehr gewachsen zu sein.
Was hilft? Letztlich nur, Prioritäten zu setzen, das Wünschbare mit dem Möglichen übereinzubringen und die Rückbesinnung darauf, wie sich Komplexität sinnvoll reduzieren lässt: mit mehr Markt, mehr Eigenverantwortung und klugen wirtschaftspolitischen Weichenstellungen, die den Industriestandort stärken. Nur wenn die Politik Strukturreformen systematisch angeht, lassen sich Innovations- und Wachstumsdynamik wiedergewinnen und die großen politischen und gesellschaftlichen Aufgaben von verteidigungspolitischer Zeitenwende bis Klimaneutralität bewältigen.
Prof. Dr.-Ing. Siegfried
Russwurm
ist seit 2021 Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie e. V. Zudem ist er Aufsichtsratsvorsitzender der thyssenkrupp AG und Mitglied weiterer Aufsichtsräte. Von 2008–2017 war er Mitglied des Vorstands der Siemens AG. An der Universität Erlangen-Nürnberg lehrt er als Honorarprofessor Grundlagen der Mechatronik.
Russwurm, BB 2023, Heft 37, Umschlagteil, I