“Was zu überprüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist” – Zur Bindung nationaler Gerichte an Hinweise des EuGH

“Was zu überprüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist” – Zur Bindung nationaler Gerichte an Hinweise des EuGH

Abbildung 1

Nationale Gerichte müssen die Hinweise des EuGH beachten, aber in eigener Kompetenz den Sachverhalt beurteilen.

Die Rollenverteilung von EuGH und nationalem Gericht ist mitunter schwierig abzugrenzen. Die Ausgangspunkte sind dabei klar. Aufgabe des EuGH ist die Auslegung des Europarechts, nicht des nationalen Rechts. Die ist domaine réservé der nationalen Gerichte. Und deren Aufgabe ist auch die Anwendung des durch die Auslegung des EuGH näher bestimmten Europarechts auf den konkreten Sachverhalt. Das muss auch so sein, denn für die Anwendung des Rechts muss das Gericht stets den vollständigen Sachverhalt kennen. Den hat der EuGH nicht – ihm wird immer nur ein Ausschnitt mitgeteilt. Konkret heißt das etwa: Was abstrakt ein sachlicher Grund zur Rechtfertigung einer Befristung sein kann, entscheidet der EuGH, ob er tatsächlich vorliegt, das nationale Gericht.

Die vorlegenden Gerichte sind dabei an die Entscheidungen des EuGH gebunden. Sonst würde die Vorlage auch keinen Sinn ergeben. Das beantwortet jedoch nicht die Frage, wieweit diese Bindung geht. Formal gilt zunächst: Die Bindung erfasst den Tenor im Lichte der Entscheidungsgründe, nicht die Entscheidungsgründe selbst. Der EuGH hat das wiederholt deutlich gemacht (so bereits EuGH, 16.3.1978 – Rs. 135/77, Slg 1978, 855, Rn. 4) und es entspricht auch der Praxis der deutschen Gerichte. Es gab missverständliche Formulierungen in Entscheidungen des EuGH, die das BAG schlicht ignoriert hat – Rn. 76 der Entscheidung Scattolon ist so ein Beispiel (EuGH, 6.9.2011 – C-108/10, Slg 2011, I-7491, und BAG, 3.7.2013 – 4 AZR 961/11, BAGE 145, 324). In anderen Entscheidungen hat das nationale Gericht nochmal vorgelegt mit der schüchternen Frage, ob denn das Gesagte wirklich ernst gemeint war oder das alles nur ein Missverständnis war. Das Duo Schultz-Hoff/KHS oder Alemo-Herron/Asklepios sind solche Beispiele, in denen dann der EuGH seine Rechtsprechung tatsächlich erheblich modifiziert hat. Was aber gilt, wenn der EuGH, wie er selbst sagt, nur “Hinweise” gibt für eine Prüfung, die er dann dem nationalen Gericht überantwortet – etwa bei der Rechtfertigung einer Diskriminierung, oder der Frage nach einem sachlichen Grund für eine Befristung?

Gerade das letzte Beispiel deutet auf die Grenzen der EuGH-Vorgaben. In der Rs. C-270/22 (30.11.2023, NZA 2023, 1583 ff.) legte ein italienisches Gericht dieselbe Frage noch einmal vor, weil es davon ausging, für die weitgehenden Hinweise des Gerichtshofs in einer vorangegangenen Rechtssache fehlten diesem Sachverhaltsdetails, die er eigentlich hätte haben müssen, so dass – entgegen den Hinweisen der Vorentscheidung – sehr wohl von der Unionsrechtskonformität einer italienischen Norm auszugehen sei. Der EuGH zeigte sich störrisch und wiederholte die bekannten Textbausteine: “Im Rahmen eines nach Art. 267 AEUV eingeleiteten Verfahrens ist die Auslegung der nationalen Vorschriften . . . Sache der Gerichte der Mitgliedstaaten und nicht des Gerichtshofs, und es kommt diesem nicht zu, sich zur Vereinbarkeit von Vorschriften des innerstaatlichen Rechts mit den Bestimmungen des Unionsrechts zu äußern. . . . In Anbetracht der Verteilung der Aufgaben zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof hat sich dieser darauf beschränkt, . . . Hinweise zur Auslegung von Paragraf 4 der Rahmenvereinbarung zu geben, und zwar . . . im Hinblick auf den vom vorlegenden Gericht beschriebenen rechtlichen und sachlichen Rahmen und vorbehaltlich der Überprüfungen, die in die alleinige Zuständigkeit dieses Gerichts fallen.” Überprüfung ist das Schlüsselwort. Nationale Gerichte müssen die Hinweise des EuGH beachten, aber in eigener Kompetenz den Sachverhalt beurteilen. Dieser Vorbehalt kann sehr praktisch werden. So heißt es etwa jüngst in der Entscheidung in der Rs. LufthansaCityline (19.10.2023 – C-660/20, ZTR 2023, 680 ff., dazu Thüsing/Mantsch, BB 2023, 2676), dass die Rahmenvereinbarung Teilzeit “einer nationalen Regelung entgegensteht, die die Zahlung einer zusätzlichen Vergütung für Teilzeitbeschäftigte und für vergleichbare Vollzeitbeschäftigte einheitlich daran knüpft, dass dieselbe Zahl Arbeitsstunden bei einer bestimmten Tätigkeit wie dem Flugdienst eines Flugzeugführers überschritten wird, um eine besondere Arbeitsbelastung bei dieser Tätigkeit auszugleichen”. Gleichzeitig heißt es aber auch hier: “Unter diesem Blickwinkel wird es Sache des vorlegenden Gerichts sein, . . . festzustellen, ob die im Ausgangsverfahren in Rede stehende unterschiedliche Behandlung als durch einen “sachlichen Grund” gerechtfertigt angesehen werden kann. Im Rahmen dieser Beurteilung wird das vorlegende Gericht folgende Erwägungen zu berücksichtigen haben.” Berücksichtigen (tenue de prendre en compte – required to take into account – in aanmerking moeten nehmen) mutet nach weniger an als “anwenden” oder “umsetzen”, aber dennoch ist wohl eine Bindung gewollt. Wenn aber der EuGH dann anmerkt, dass es so scheine, als gebe es “keine objektiven und transparenten Kriterien, die es erlauben, sicherzugehen, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende unterschiedliche Behandlung . . . im Einklang mit der . . . Rechtsprechung etwa einem echten Bedarf entsprechen”, dann kann das nationale Gericht dennoch feststellen: Doch, die gibt es, und um das festzustellen brauchen wir – anders als vom EuGH gefordert – weder wissenschaftliche Erkenntnisse oder allgemeine Erfahrungswerte, es reicht uns die Erfahrung der Tarifvertragsparteien, die davon ausgehen, dass es eine solche Rechtfertigung gibt. Denn eine solche Feststellung ist Sachverhalt, nicht Rechtssatz – sie steht nicht im Tenor, sondern in den Entscheidungsgründen.

Warten wir also ab, was das BAG aus dem Rückläufer macht. Dass es klug mit den Vorgaben des EuGH umgehen kann, hat es bereits in anderen Entscheidungen bewiesen, wo der Sachverhalt, den der EuGH vor Augen hat, wohl allzu rudimentär war (BAG, 31.5.2023 – 5 AZR 143/19, DB 2023, 2507 ff.).

Prof. Dr. Gregor
Thüsing
, LL.M. (Harvard), ist Direktor des Instituts für Arbeitsrecht und Recht der Sozialen Sicherheit der Universität Bonn.

Thüsing, BB 2024, Heft 16, Umschlagteil, I