Zunehmende Zielkonflikte zwischen Nachhaltigkeit und Bilanzierung: Problem oder Lösung?

Zunehmende Zielkonflikte zwischen Nachhaltigkeit und Bilanzierung: Problem oder Lösung?

Abbildung 1

Nicht alle Konflikte müssen gelöst werden, manches ist einfach zu akzeptieren und zu kommunizieren.

Die Maximierung des Shareholder Value und damit die Steigerung des Unternehmenswerts – verstanden als Marktwert des Eigenkapitals – galt lange Zeit als vorrangiges (finanzielles) Ziel einer guten Unternehmensführung. Über die Veröffentlichung von (geprüften) Finanzinformationen, deren Verständlichkeit und Nachvollziehbarkeit eine Aufgabe der Rechnungslegung ist, kann Rechenschaft über das Erreichte abgelegt und einen Ausblick auf das noch zu Erwartende gegeben werden. Mit einer Erklärung im Wall Street Journal vom 20.8.2019 verabschiedete sich zuerst die amerikanische Wirtschaftselite von dem jahrzehntelang gelebten Mantra, der Blickwinkel eines “guten” Unternehmens richte sich nur auf die Shareholder; die Stakeholder insgesamt waren jedoch (noch) nicht im Vordergrund. Die inhaltliche Verantwortung der Unternehmensführung beschränkte sich nur auf finanzielle Aspekte, wenn auch mit einem langfristigeren Horizont. Nur wenige Jahre später reicht diese Ausweitung der Perspektive auf ein Mehr an finanzieller Fairness gegenüber einer breiteren Gruppe von Adressaten, die neben den Anteilseignern z. B. auch den Kunden, den Beschäftigten, den Lieferanten und den Bürger umfasst, nicht mehr aus. Mit der Abkehr vom Ziel der kurzfristigen Wertsteigerung sieht sich die heutige Unternehmensführung der Forderung nach einem nachhaltigen Wirtschaften – betrachtet werden nicht nur die Auswirkungen der Umwelt auf das Unternehmen, sondern auch die des Unternehmens auf die Umwelt – ausgesetzt. Folge des erosionsartigen Paradigmenwechsels bezogen auf die Erwartungshaltung der weit gefassten Gruppe von Stakeholdern ist ein – mitunter nicht oder nur schwer zu vereinbarendes – Nebeneinander von finanziellen und nicht-finanziellen Zielen für die Typisierung als “gutes” Unternehmen. So wundert es nicht, dass als nachhaltig empfundene Geschäftsaktivitäten und Transaktionen wie Pilze aus dem Boden schießen. Stellt man ausschließlich auf den Aspekt der Nachhaltigkeit ab, gibt es wenig Gründe, den eigenen Appetit zu zügeln und die Aktivitäten zu begrenzen. Wer ist schon gegen das Verfolgen eines nachhaltigen Geschäftsmodells? Es gilt aber wie für den Konsum von Pilzen in der Natur: Die nachhaltigen Geschäftsaktivitäten sollten besonders gründlich gekaut und langsam gegessen werden, andernfalls sind diese nur schwer zu verdauen. Jede “gute” Transaktion schlägt sich im Rahmen der bilanziellen Abbildung auch in den Finanzinformationen nieder. Es kommt für das Unternehmen zum Zielkonflikt, wenn das Regelwerk der Rechnungslegung für eine nachhaltige Transaktion ein negatives Bild bei der Darstellung der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage zeichnet. Besondere Relevanz für einen Zielkonflikt von nachhaltigem Handeln und der Information über die Schaffung von (Mehr-)Werten haben die Vorgaben zur Bilanzierung von Finanzinstrumenten. Nur wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind und eingehalten werden, entfällt eine Verpflichtung zur erfolgswirksamen Fair-Value-Bewertung, die eine Ergebnisvolatilität begründet und eine Extrapolation für die Prognose der Zukunft erschwert. Das enge Korsett der Bedingungen reduziert Ermessen und sichert die Verständlichkeit und Nachvollziehbarkeit der Finanzinformation. Es begründet aber auch einen Zielkonflikt für das Verfolgen von (vermeintlich) nachhaltigen Geschäftsaktivitäten. Die Berücksichtigung der Auswirkungen des Unternehmens auf die Umwelt im Rahmen der Bestimmung von Finanzierungskosten für Verbindlichkeiten, also die Bindung der Zinsabrede an eine Environmental, Social and Governance-(ESG-)Metrik ist zu begrüßen, verletzt de lege lata aber eine objektive (Zahlungsstrom-)Bedingung und verpflichtet zu einer Fair-Value-Bewertung. Das Umstellen des eigenen Strombezugs auf regenerative Energieträger hat – klammert man die Nebenkosten für die Errichtung der Anlage und den Transport des Stroms aus – eine positive Bilanz und reduziert die Abhängigkeit von einer knappen Ressource; die Verletzung einer (Own-Use-) Ausnahme wegen Schwankungen in der Abnahmemenge zieht aber eine Kategorisierung als Finanzinstrument nach sich und zwingt zu einer erfolgswirksamen Fair-Value-Bewertung. Eine aus einer Nachhaltigkeitsperspektive als “gut” befundene Transaktion führt nicht zwangsläufig auch zu einem “guten” (Ab-)Bild in der Finanzberichterstattung. Die bereits bestehenden und bei der Geschwindigkeit der Entwicklung künftig noch zu erwartenden Zielkonflikte zwischen nachhaltigem Handeln und der Abbildung in der Bilanzierung bezeugen die Notwendigkeit einer holistischen Fortentwicklung der Anforderungen für die Berichterstattung. Andernfalls besteht das (weiter zunehmende) Risiko, dass eine nachhaltig sinnvolle Transaktion wegen einer als nachteilig empfundenen bilanziellen Abbildung unterlassen wird. Die Verantwortung für eine Auflösung der Zielkonflikte liegt nicht allein in der Sphäre der Rechnungslegung. Sollen Verständlichkeit und Nachvollziehbarkeit der Finanzinformation nicht erodieren, benötigt man einen Dialog aller Stakeholder, andernfalls droht als Konsequenz des Paradigmenwechsels ein Vertrauensverlust in die Berichterstattung der Unternehmen. Anders gewendet: Nicht für jede Idee, die mit dem Etikett Nachhaltigkeit als “gutes” Geschäft in den Markt getrieben wird, muss eine Anpassung der Vorgaben für die Rechnungslegung erfolgen. Ein Ergebnis des notwendigen Dialogs aller Stakeholder kann (und darf) auch sein, dass ein (vermeintlicher) Zielkonflikt nicht aufgehoben wird, sondern durch einen Wechsel in der Erwartungshaltung der Informationsadressaten relativiert wird. Es muss nicht zwangsläufig negativ sein, wenn bestimmte Verbindlichkeiten, deren Kapitaldienst an eine ESG-Metrik geknüpft ist, oder Lieferverträge über Strom aus regenerativen Quellen erfolgswirksam zum Fair Value bewertet werden. Entscheidend ist die Gesamtbewertung einer Transaktion, manche Zielkonflikte haben auch das Recht zu persistieren.


Dr.
Jens
Freiberg
, WP, ist Head of Capital Markets der BDO AG Wirtschaftsprüfungsgesellschaft an den Standorten Düsseldorf und Frankfurt a. M., Mitglied im Beirat des “Betriebs-Berater”, Mitglied des Fachausschusses Berichterstattung (FAB) des Instituts der Wirtschaftsprüfer e. V. sowie Mitglied des IFRS Interpretations Committee.

Freiberg, BB 2023, Heft 17, Umschlagteil, I