Ziel Krisenresilienz: neuer Führungsstil in den Unternehmen gefordert
Das Modell der agilen Führung kommt an seine Grenzen; das Topmanagement muss zentral Vorgaben entwickeln, entscheiden, durchsetzen.
Seit Jahren ist es für viele ein Leitbild: das Unternehmen als selbstlernende Organisation, mit eigenverantwortlich agierenden Teams und Führungskräften, die Mitarbeiter nicht anleiten, sondern coachen. Agile Führung gilt als Voraussetzung, um im digitalen Zeitalter Erfolg zu haben. Selbst wenn es in der Praxis nicht so gut klappte wie in der Theorie, war das selten Anlass, das Prinzip in Frage zu stellen.
Doch die Zeiten ändern sich. Eine Rezession kündigt sich an. Energieknappheit, Lieferengpässe und Personalausfälle verdichten sich zu einem Krisenszenario, wie es die jüngere Manager-Generation noch nicht erlebt hat. Nicht wenige Vorstände werden dazu gezwungen sein, für die Mitarbeiter schmerzhafte Maßnahmen zu beschließen. Damit kommt das Modell der agilen Führung an seine Grenzen. Um Krisenresilienz zu erreichen, muss das Topmanagement umschalten: zentral Vorgaben entwickeln, entscheiden, durchsetzen. Eine Krise ist eine Notsituation. Ihr Management lässt sich nicht delegieren.
Die Botschaft wird nicht überall Freude auslösen. “Haben wir Agilität nicht gerade erst gelernt?”, werden die Älteren von uns fragen. Für viele junge Mitarbeiter und Führungskräfte wiederum ist Agilität das einzige Führungsmodell, das sie aus der Praxis kennen. Doch wenn sich die Welt ändert, bleibt die innere Verfassung von Unternehmen nicht unberührt. Neue Fragen erfordern neue Antworten. Es ist etwas anderes, ein Unternehmen durch gute oder durch schlechte Zeiten zu führen.
Seinen Siegeszug durch die Chefetagen verdankt agiles Leadership dem Versprechen, Bürokratie abbauen und Hierarchien aufbrechen zu können. Dezentrale Entscheidungen, direkte Vernetzung und sich flexibel formierende Teams sollen die Beweglichkeit bringen, die Unternehmen brauchen, um sich auf schnell wechselnde Arbeitsgrundlagen und Kundenwünsche einzustellen. Optimal funktioniert dieses Modell vor allem in hochinnovativen, von rapidem technischem Fortschritt geprägten Bereichen. Doch zur Krisenbewältigung taugt es nicht.
Mit welchen Instrumenten reagieren denn Unternehmen auf veränderte Marktbedingungen? Mit einem Strategiewechsel, oft gekoppelt mit einem anderen Zuschnitt des Unternehmens. Abteilungen, manchmal auch ganze Geschäftsbereiche werden integriert, verkleinert, neu positioniert oder veräußert. Auch die Kostenstruktur wird hinterfragt: Sind Ressourcen effizient eingesetzt? Welche Projekte sind essenziell, welche nur nice-to-have? Wie viel Personal brauchen wir wirklich und wo?
In guten Zeiten kennen erfolgreiche Unternehmen fast nur Gewinner. Jetzt muss es, wollen sie erfolgreich bleiben, auch Verlierer geben.
Die meisten Mitarbeiter wären überfordert, Entscheidungen zu treffen, die ihre Situation subjektiv verschlechtern oder gar ihren eigenen Job entbehrlich machen. Es ist auch nicht ihre Aufgabe. Deshalb gibt es ja Führungskräfte: Um strukturelle Entscheidungen, auch unangenehme, schnell und konsequent zu treffen und zu vertreten. Hierarchien sind dafür unentbehrlich. Krisenmanagement geht nicht dezentral. Krisenmanagement klappt nur top-down, mit einem klaren Konzept, klaren Ansagen und einem Plan, der Sicherheit gibt.
Ein berühmtes Beispiel ist die Sanierung von Chrysler durch Lee Iacocca. Der Automanager wendete die Insolvenz ab, indem er teure Renommierprojekte beerdigte, etwa die Entwicklung eines Gasturbinen-Antriebs, und seine Arbeiter von Lohnkürzungen überzeugte. Im Gegenzug gewährte die US-Regierung dem Konzern einen Milliardenkredit. Das war 1979, von Agilität sprach damals niemand, und es wäre wohl auch vergeblich gewesen – Iacocca war alte Schule. Doch in der Krise ist es genau das, was ein Unternehmen braucht: Manager mit Mut, Know-how, Durchsetzungsfähigkeit und der Demut, mit gutem Beispiel voranzugehen.
Vorstände, die von Mitarbeitern Zugeständnisse verlangen, tun dem Unternehmen keinen Gefallen, wenn sie sich Boni genehmigen und am Tag nach der Mitarbeiterversammlung mit dem Ferrari zur Arbeit fahren. “Walk the talk”, heißt es in Amerika. Iacocca arbeitete während der Sanierung von Chrysler für ein Jahresgehalt von einem Dollar. Auch deshalb war die mächtige Autogewerkschaft UAW zu Konzessionen bereit. Krisenresilienz erfordert Glaubwürdigkeit.
Das heißt nicht, dass die Lehren der agilen Jahre vergebens waren. Schnell, direkt, flexibel – das sind gute Prinzipien. So sollte auch das Krisenmanagement sein. Kein Wegducken oder Verstecken hinter Floskeln, sondern eine offene, ehrliche Kommunikation darüber, weshalb Veränderung notwendig ist, welche Ziele erreicht werden sollen und wie. Auch der Wechsel des Führungsstils selbst ist erklärungsbedürftig, mit der Botschaft: “Wir sind jetzt im Krisenmodus.” Damit alle verstehen, dass es sich um eine Ausnahmesituation handelt.
Selbst wenn agile Führungsprinzipien bei der Krisenbewältigung an Grenzen stoßen – ein Zurück zu den autoritären Strukturen von gestern wird es nicht geben. Herausforderungen wie Digitalisierung oder New Work sind mit ihnen nicht zu meistern. Postagiles Führen bedeutet vielmehr, den Führungsstil den jeweiligen Anforderungen gemäß flexibel anzupassen. Selbst in der Krise mag es vorteilhaft sein, in einigen Bereichen möglichst selbstbestimmte und hierarchiefreie Strukturen beizubehalten. Agilität bleibt auch in Zukunft ein Instrument im Werkzeugkasten. Es wird nur nicht mehr als das einzige System angesehen werden, das einem Unternehmen Resilienz verleiht.
Ralf
Strehlau
ist seit 2017 Präsident des Bundesverbandes Deutscher Unternehmensberatungen (BDU). Vor zwanzig Jahren gründete er nach langjähriger Tätigkeit für Consultingunternehmen die ANXO Management Consulting GmbH mit Sitz in Frankfurt a. M. Als deren Geschäftsführender Gesellschafter berät er schwerpunktmäßig zu Unternehmensstrategien, Restrukturierungen, Change Management sowie Marketing und Digitalisierung.
Strehlau, BB 2022, Heft 38, Umschlagteil, I