Arbeitsrecht in Zeiten des Strukturwandels: Hausaufgaben für eine neue Koalition
Das Arbeitsrecht gehört auf den Prüfstand. Jede Rechtsnorm ist daraufhin abzuklopfen, ob sie einfacher, praxistauglicher und effektiver gestaltet werden kann.
“Deutschlands Wirtschaft tritt auf der Stelle” titelte vor wenigen Tagen die Tagesschau. Eine Entwicklung, die auch auf dem Arbeitsmarkt nicht ohne Folgen bleibt. Längst betrifft es nicht “nur” die Automobilhersteller und ihre Zulieferer (und schon das ist gravierend), sondern zunehmend auch weitere Branchen. Thyssenkrupp Steel stellte Anfang letzter Woche ein Eckpunktepapier für ein “industrielles Zukunftskonzept” vor. In der dazugehörigen Pressemittelung heißt es unter anderem: “Ziel ist ein Abbau von ca. 5.000 Stellen durch Anpassungen in Produktion und Verwaltung bis 2030.
Und auch wenn all das nicht am Arbeitsrecht liegt, so bildet es dennoch den Rahmen, innerhalb dessen sich der unternehmerische Wandel realisiert. Es kann ein guter oder ein schlechter Rahmen sein, ein zu großer oder ein zu kleiner – zu schlicht oder zu überladen. Es ist also Zeit, um zu überlegen: Was brauchen wir? Was fehlt? Und was brauchen wir vielleicht auch nicht (mehr)? Das Arbeitsrecht gehört auf den Prüfstand. Jede Rechtsnorm ist daraufhin abzuklopfen, ob sie einfacher, praxistauglicher und effektiver gestaltet werden kann.
Dazu gehört zuallererst – und wohl auch politisch am einfachsten durchzusetzen – mehr Rechtssicherheit. In zu vielen Bereichen zeigt sich ein Klarstellungsbedarf durch den Gesetzgeber. Rechtssicherheit verlangt klar formulierte Rechtsnormen – dort, wo die gehandhabte Rechtsprechungspraxis einer Normauslegung contra legem zunehmend nahekommt, muss gesetzgeberisch nachgebessert werden. Die durch die europäische Überformung des Arbeitsrechts bedingte unionsrechtskonforme Auslegung hat ihre Legitimation, doch stößt die zunehmend wahrnehmbare Diskrepanz zwischen Gesetzeswortlaut und Rechtsprechungspraxis übel auf. Dies gilt nicht nur für Einzelnormen wie § 7 BUrlG, deren “gelebter Inhalt” mit dem Normtext immer weniger zu tun haben, sondern allen voran auch für ganz zentrale Begrifflichkeiten des Arbeitsrechts. Wer ist Arbeitnehmer und was ist eigentlich ein Betrieb? Fragen, die sich vor einiger Zeit noch recht eindeutig beantworten ließen, über die aber heute hitzig diskutiert werden muss, weil sich die Wirklichkeiten unumkehrbar verändert haben. Doch wie soll ein modernes Arbeitsrecht der Zukunft aussehen, wenn schon der Zugang zu diesem mit Unsicherheiten verbunden ist? Auf die Folgerungen derartiger Unsicherheiten auch im Sozialversicherungssystem bei der Abgrenzung von abhängiger Beschäftigung und Selbstständigkeit sei an dieser Stelle ebenso hingewiesen. Wirkliche Klarheit kann richterrechtlich kaum geschaffen werden. Daher ist der Gesetzgeber am Zuge!
Ein nicht weniger wichtiger Themenkomplex betrifft die Stärkung der Tarifautonomie (dazu schon Thüsing, jM 2024, 61). Man kann schon von einem Dauerbrenner sprechen, beachtet man die Vielzahl an Vorhaben vergangener Koalitionen eben hierzu. Und – so viel Prognose sei uns an dieser Stelle gestattet – auch künftige Koalitionsverträge werden sicherlich Regelungen zur Stärkung der Tarifautonomie enthalten. Doch Wunschvorhaben und Realität gehen auch hier weit auseinander: Denn auch die Tarifautonomie findet sich – so scheint es – in einem zwar langsamen, aber doch schwer aufhaltbarem Abschwung. Gefördert werden muss in zweierlei Maß. Zum einen muss die Tarifabdeckung deutlich zunehmen. Dazu bedarf es größerer Anreize zum Verbandsbeitritt für eine echte, mitgliedschaftlich legitimierte Tarifbindung und letztlich wohl auch mehr Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen. Anders wird das Ziel, dessen Realisierung nicht nur rechtspolitisch wünschenswert, sondern auch durch das europäische Arbeitsrecht vorgegeben wird (man denke an Art. 4 RL (EU) 2022/2041), nur schwer zu erreichen sein. Doch wird man zum anderen auch noch einen Schritt weiterdenken müssen: Wer die Tarifautonomie stärken will, der muss ihr Vertrauen schenken und Raum zur Gestaltung ermöglichen. Mit der gegenwärtigen Entwicklung hin zu gesetzlichen Verboten und fehlenden tariflichen Öffnungsklauseln bewegt man sich derweil eher rückwärts als nach vorn. “One-size-fits-all” mag eine Daseinsberechtigung haben, für Arbeitsbedingungen in einer segmentierten Wirtschaft gilt dies aber nicht. Hier können und müssen die Sozialpartner individuell agieren können – das war und ist der Kerngedanke der Sozialpartnerschaft.
Und auch ein weiterer Themenkomplex verdient Beachtung: Wir brauchen dringend weniger Bürokratie und mehr Digitalisierung. Das Vierte Bürokratieentlastungsgesetz hat erst vor kurzem das Licht der Welt erblickt (BGBl. 2024 I Nr. 323, dazu lesenswert Bayreuther, NZA 2024, 1528) und doch wundert man sich über das immer noch obskur anmutende Ausmaß an bürokratischen Vorgängen und Formvorschriften, die auch vor dem Arbeitsrecht nicht halt machen. Hier gilt es, weiter nachzubessern. Nichts anderes gilt derweil in Sachen Beschäftigtendatenschutz. Auch wenn aus dem Referentenentwurf des Beschäftigtendatengesetzes (BeschDG; dazu Thüsing, DB 2024, 2830) durch den Bruch der Ampelkoalition nichts werden wird, muss auch eine neue Koalition den Ball aufnehmen und in jener Sache einen Schritt nach vorne gehen. Datenschutz ist wichtig und richtig, doch darf er nicht die Pauschalausrede gegen jede Zukunftsentwicklung sein. Auch in Fragen des Beschäftigtendatenschutzes muss eine stärkere Einbindung der Betriebspartner zumindest diskutiert werden. Eine Zweifelsregelung, die solche Regelungen zur Sicherung des Datenschutzes für rechtmäßig erachtet, die durch einen Konsens von Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretern entstanden sind und in einer Betriebsvereinbarung verankert wurden, wäre sinnvoll. Die Neuregelung des § 37 Abs. 4 S. 3–5 BetrVG hat gezeigt, wie echte Förderung der Betriebsautonomie aussehen kann – sie gilt es auch in anderen Bereichen fruchtbar zu machen. Doch allein das wird nicht reichen: Auch über künstliche Intelligenz im Arbeitsrecht wird man sich vermehrt Gedanken machen müssen. Denn eine Zukunft ohne künstliche Intelligenz wird es nicht geben.
Kurzum: Es ist viel zu tun! Das Ziel ist klar und jeder Schritt auf dem Weg dahin verdienstvoll.
Prof. Dr. Gregor
Thüsing
, LL.M. (Harvard), ist Direktor des Instituts für Arbeitsrecht und Recht der Sozialen Sicherheit der Universität Bonn.
Simon
Mantsch
ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Arbeitsrecht und Recht der Sozialen Sicherheit der Universität Bonn.
Thüsing/Mantsch, BB 2024, Heft 49, Umschlagteil, I