Geschäftsleiter und CSRD-UmsG: Gibt es eine Taxonomie der unternehmerischen Entscheidungskriterien?
Die Fleißarbeit am Nachhaltigkeitsbericht erweitert nebenbei den Spielraum für Business Judgments.
Die neue Nachhaltigkeitsberichterstattung (CSRD-UmsG) strapaziert die Gemüter in der Unternehmenspraxis mit Kleinteiligkeit und diffusen Haftungsfragen. Dabei kann sie den Spielraum unternehmerischer Ermessensentscheidungen für die Zukunft erheblich verbreitern.
Während die ESG-Bewegung, die Wohlfahrt bei Umwelt, Sozialem und Governance mit den Mitteln des privaten Unternehmensrechts einfordert, international auf dem Rückzug ist (vgl. Buchter, Zeit Online, 16.1.2024; Damodoran, Financial Times, 23.10.2023), erleben wir auf europäischer und deutscher Ebene gerade die entscheidende Zündstufe vom “soft” zum “hard law”. Neben der annähernden Gleichstellung der Nachhaltigkeitsberichterstattung mit der finanziellen Berichterstattung durch das CSRD-UmsG (zum RefE Wünnemann, Die Erste Seite, BB Heft 15/2024, zwischenzeitlich liegt der RegE vom 24.7.2024 vor, vgl. dazu bspw. BB 2024, 1769) werden die Nachhaltigkeitspflichten der EU-Lieferketten-RL (CSDDD) in den nächsten Jahren über ein aufgewertetes Korsett im LkSG umgesetzt, bis hin zum verpflichtenden Übergangsplan zur Minderung der Folgen des Klimawandels (J. Schmidt, NZG 2024, 859, 862 ff.). Noch weitergehender berät der 74. Deutsche Juristentag vom 25.9. bis 27.9.2024 über die Klimatransformation des Gesellschaftsrechts mit Vorschlägen zu Klimaquote, Klimarechtsform und Klimagovernance (Weller, NJW-Beil. 2024, 58).
Die guten Zwecke stellt niemand ernsthaft in Abrede, auch wenn die Mittel des Öffentlichen Rechts zur Steuerung (z. B. finanzielle Anreize) als deutlich geeigneter erschienen (vgl. Bachmann, ZHR 187 (2023), 166, 173 ff.). De lege ferenda bleibt zu hoffen, dass die ESG-Regulatorik klarer entlang der Zwecksetzung fokussiert wird (Hennrichs, NZG 2023, 1149). De lege lata hat die Unternehmenspraxis die Beachtung der diversen Offenlegungs-, Berichts- und Sorgfaltspflichten sicherzustellen. Aus Sicht der Geschäftsleitung geht es damit um nicht mehr, aber auch nicht weniger als Legalität. Die Anforderungen an die Kompetenzen und Organisationsstrukturen der ESG-Compliance sind dabei nicht zu unterschätzen. Nach aktueller Rechtslage gibt es aber darüber hinaus keine allgemeinen ESG-Sorgfaltspflichten der Geschäftsleitung, wonach etwa bei einer unternehmerischen Abwägung die finanziell weniger rentable Entscheidungsvariante zu bevorzugen wäre, weil sie gegenüber der rentableren Variante nachhaltiger ist (h. M., s. Koch, AktG, 18. Aufl. 2024, § 93 Rn. 21; a. A. etwa Hommelhoff, NZG 2023, 1631, 1632). Eine solche Defokussierung der Geschäftsleitungspflichten wurde bei Fertigstellung der CSDDD in letzter Minute abgewehrt (zustimmend statt vieler J. Schmidt, NZG 2024, 859, 870).
Umgekehrt hat die Geschäftsleitung noch mehr Spielraum, im sicheren Hafen der Business Judgment Rule finanziell weniger rentable Entscheidungsvarianten zu beschließen, wenn sie dafür gewichtige nicht-finanzielle Kriterien in die Waagschale werfen kann; die Nachhaltigkeitsaspekte im Corporate Sustainability Report können dabei als gewichtig eingestuft werden (vgl. Bachmann, ZHR 187 (2023), 166, 199 f.; Weißhaupt, ZHR 185 (2021), 91, 120. Wer jedoch der Versuchung unterliegt, aus dem ESG-Score im Bericht oder aus der Position eines Nachhaltigkeitsaspekts im Koordinatensystem der “doppelten Materialität” auf eine Taxonomie für alle Entscheidungsfragen des betreffenden Unternehmens zu schließen, springt zu kurz (Creutzmann/Gleißner, ESG 2023, 35, 38). Zunächst könnten Nachhaltigkeitsaspekte bereits in der finanziellen Renditebetrachtung eingepreist sein (z. B. CapEx, OpEx, vorübergehender Umsatzabrieb bei Klimatransformationsplänen), soweit dadurch keine Scheingenauigkeiten aufgestellt werden. Ferner verhalten sich unterschiedliche Nachhaltigkeitsaspekte im Risikoprofil bisweilen gegenläufig und müssen im konkreten Einzelfall am Geschäftsmodell ausgemessen werden. So mögen die geopolitischen Risiken einer Investition in China für einen Chemiekonzern wegen der erfolgskritischen Bedeutung der Energiekosten weniger stark ins Gewicht fallen als bei einem globalen Technologiekonzern, der trotz höherer Kosten am Standort Deutschland von einer China-Alternative absieht. Wieder anders mag gewogen werden, wenn der geopolitisch kritische Standort klimaneutral mit Erneuerbaren Energien betrieben wird. Die nationale De-Risking-Strategie der Bundesregierung könnte jenseits einer handfesten verwaltungsrechtlichen Flankierung, wie z. B. der Deckelung entsprechender Investitionsgarantien, in die unternehmerische Abwägung allenfalls auf dem Umweg über den allgemeinen Reputations-Topos Eingang finden (vgl. Tröger/Schmolke, NZG 2015, 689, 693). Die Fleißarbeit der Berichtserstellung hat demgegenüber den positiven Nebeneffekt, der Geschäftsleitung einen differenzierten und wohl dokumentierten Fundus von Abwägungsaspekten zu verschaffen. Sie erweitert damit den Raum für pflichtgemäße unternehmerische Entscheidungen unter VUCA-Rahmenbedingungen.
Dr. Frank
Weißhaupt
, LL.M. (NYU), Attn.-at-law (NY), Syndikus-RA, ist seit 2019 General Counsel bei “Viridium Gruppe”, bei der er zugleich das Gremiensekretariat leitet. Zuvor verantwortete er zehn Jahre beim DAX-Konzern Munich Re verschiedene globale Rechts- und Compliance-Funktionen. Der Beitrag gibt seine persönliche Auffassung wieder.
Weißhaupt, BB 2024, Heft 38, Umschlagteil, I