Deutsche Wirtschaft: mit Zumutungen, Zutrauen und Zuversicht in die Zukunft

Deutsche Wirtschaft: mit Zumutungen, Zutrauen und Zuversicht in die Zukunft

Abbildung 1

Um unseren Wohlstand langfristig zu sichern, muss die Politik den Menschen wieder mehr zumuten und den Unternehmen wieder mehr zutrauen.

Die Welt scheint derzeit wahrlich aus den Fugen geraten. Seit einigen Jahren jagt eine Krise die nächste – ein Ende lässt sich aktuell nicht erkennen: Die Finanz- und Wirtschaftskrise hatte vor rund 15 Jahren das Vertrauen in die globalen Finanzmärkte erschüttert, und die Krise im Euro-Raum wenige Jahre später hat die Währungsunion an den Rand ihrer Existenz geführt. Die große Zuwanderung nach Europa in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrzehnts war eine Bewährungsprobe für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft und kaum abgeebbt, da brach die Corona-Pandemie aus. Die Pandemie und die Maßnahmen zu ihrer Eindämmung haben Wirtschaft und Gesellschaft über Jahre unter Dauerstress gesetzt.

Kaum schien die wirtschaftliche Erholung von diesen Jahren einigermaßen erfolgreich in die Wege geleitet, begann der russische Angriffskrieg in der Ukraine. Die damit verbundenen Verwerfungen auf den Energiemärkten führten zu einer Konfrontation mit einem seit Jahrzehnten nahezu unbekannten Phänomen – hohen Inflationsraten. Kurzfristig konnte die Versorgung der deutschen Volkswirtschaft mit Energie zwar zu einem hohen Preis gesichert werden, aber aktuell befindet sie sich zweifellos in einer Rezession.

Doch das konjunkturelle Auf und Ab der Wirtschaftsaktivität ist nicht das eigentliche Problem unserer Volkswirtschaft. Es ist durchaus plausibel, dass alle professionellen Prognostiker nach einem schwachen Jahr 2023 für das kommende Jahr wieder von positiven, wenngleich verhaltenen Wachstumsraten ausgehen. Die Wirtschaft tendiert aller Erfahrung nach dazu, nach Rückschlägen recht schnell wieder auf den langfristigen Wachstumspfad zurückzukehren. Es ist aber dieser Pfad, der gefährdet ist.

In den vergangenen Krisenjahren stand der Staat häufig als kurzfristiger Krisenmanager im Rampenlicht: Zum einen gab es Lichtblicke an Führungsqualität, beispielsweise als vor rund einem Jahrzehnt das Tandem Merkel/Schäuble mit seiner Standhaftigkeit den Zusammenhalt des Euro-Raums gewährleistet hat. Zum anderen haben sich spontane Entscheidungen in der langen Frist als folgenreich erwiesen, etwa die Entscheidung, zuerst aus der Kernenergie und dann aus der Kohleverstromung auszusteigen.

Aber trotz aller staatlichen Eingriffe blieben den Akteuren in Wirtschaft und Gesellschaft genügend Freiräume, um ihren Beitrag zur Steigerung des Wohlstands zu leisten: Bei all den Rettungs- und Stützungsaktionen der vergangenen Jahre war der Staat denn auch nur deswegen so erfolgreich, weil er Dank der – in den Unternehmen erbrachten – hohen Wirtschaftsleistung aus dem Vollen schöpfen konnte.

Die Unternehmen und ihre Belegschaften waren es, die etwa in der Zeit der Corona-Pandemie große Anpassungsfähigkeit gezeigt und die Versorgung der Bevölkerung mit Wirtschaftsgütern sichergestellt haben. Nun wäre angezeigt, erneut ihr Potenzial zu entfesseln, wenn es um die Bewältigung der großen Herausforderungen des laufenden Jahrzehnts geht: Deglobalisierung abwenden, Defossilisierung vorantreiben, Digitalisierung verwirklichen. Letzteres gilt insbesondere im Bereich des staatlichen Verwaltungshandelns. Die Bedeutung unternehmerischer Freiheiten scheint mittlerweile jedoch aus dem Blick geraten zu sein.

Eine große Wachstums- und Wohlstandsbremse ist der demographische Wandel. Das Ausscheiden der geburtenstarken Jahrgänge aus dem Arbeitsmarkt wird auf Jahre hinaus das Wachstum der deutschen Wirtschaft erheblich dämpfen. Der Arbeitsmarkt ist schon jetzt ein Anbietermarkt – die Verhandlungsmacht auf Seiten der potenziellen Beschäftigten ist im historischen Vergleich ungemein groß. Kein Wunder, dass die Unternehmen sich schon heute mit Problemen konfrontiert sehen, ihre Fachkräftebasis zu sichern.

Mit einer hohen Verhandlungsmacht am Arbeitsmarkt gehen zunehmend attraktive Arbeitsbedingungen und hohe Löhne einher, auch ohne dass der Staat helfend eingreift. Es ist daher kurios, dass die Arbeitsmarktpolitik sich offenbar vor allem in der Verantwortung sieht, die Verhandlungsposition der Unternehmen noch weiter zu beschneiden. Dies gilt beispielsweise für die großzügigen Lohnersatzleistungen, deren Abstand zu dem mit einfachen Tätigkeiten zu erreichenden Arbeitseinkommen mittlerweile recht gering ausfällt.

Man kann nun zwar beklagen, dass die Politik eine gesellschaftliche Modernisierung nach ihrer Vorstellung top down durchsetzen möchte und unternehmerisches Handeln aktuell einen so geringen Stellenwert genießt. Aber die Welt dreht sich weiter: Die vielen attraktiven Arbeitsplätze wird es auf lange Frist nur dann geben, wenn es sich für die Unternehmen rechnet, diese durch ihre – aus eigenem Antrieb getätigten – Investitionen am Standort Deutschland bereitzustellen.

Vor diesem Hintergrund darf man zuversichtlich bleiben, dass die kommende wirtschaftliche Durststrecke erst zu der Erkenntnis führen wird, dass sich diese Investitionen für Unternehmen rechnen müssen – und damit verknüpft zu der Einsicht, dass Unternehmen Verbündete beim Ringen um gesellschaftlichen Fortschritt sind und nicht Gegner. Wenn dann in der Politik die Bereitschaft hinzutreten sollte, allen Sphären der Gesellschaft, und nicht nur den Unternehmen, wieder mehr zuzumuten und den Unternehmen wieder mehr eigene Gestaltungs- und Modernisierungskraft zuzutrauen, werden wir die Herausforderungen des laufenden Jahrzehnts erfolgreich meistern und unseren Wohlstand mehren können.

Prof. Dr. Dr. h. c. Christoph M.
Schmidt
ist Präsident des RWI – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung und Professor an der Ruhr-Universität Bochum. 2009–2020 war er Mitglied des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, von März 2013 bis Februar 2020 dessen Vorsitzender.

Schmidt, BB 2023, Heft 51-52, Umschlagteil, I