Die Freiberufler und das Arbeitszeitrecht
Die Reformanstrengungen sollten in der aktuellen Situation verdoppelt werden.
Das deutsche Arbeitszeitgesetz (ArbZG) ist seit langem hoffnungslos veraltet. Entstanden ist es vor fast 30 Jahren vor dem Hintergrund der klassischen Industriearbeit des ausgehenden 20. Jahrhunderts: Man kommt morgens zu Schichtbeginn in den Betrieb und fährt abends nach Schichtende wieder nach Hause. Internet, E-Mails, Telearbeit, mobile Arbeit oder Home Office gab es damals ebenso wenig wie Vertrauensarbeitszeit.
Die Auswirkungen des veralteten Gesetzes auf die moderne Arbeitswelt sind seit langem bekannt. Einfachstes Beispiel: Wer abends um 23.00 Uhr noch in seinen Rechner oder auf sein Smartphone schaut und eine dienstliche E-Mail bearbeitet, darf erst nach Ablauf der mindestens elfstündigen Ruhezeit (§ 5 ArbZG) wieder ins Büro kommen, den Rechner hochfahren oder auf das Smartphone schauen. Bis 10.00 Uhr am Folgetag muss der Arbeitnehmer also zu Hause (Dienstreisen sind vor 10.00 Uhr natürlich auch verboten) untätig Zeitung lesen oder frühstücken, erst dann kann es losgehen. Für Reformdruck sorgt aber auch der EuGH und ihm folgend das BAG mit der Forderung, aus europarechtlichen Gründen müsse die gesamte Arbeitszeit dokumentiert werden, nicht nur wie im ArbZG geregelt die Überstunden. Wie das funktionieren soll, insbesondere bei mobilem Arbeiten und bei Vertrauensarbeitszeit, weiß niemand.
Besonders betroffen vom veralteten Arbeitszeitrecht sind die Freiberufler. Ihre Dienstleistung ist vielfach geprägt von großem Zeitdruck. Jeder kennt das Zitat aus John Grishams “Die Firma”: “Panik gehört zum Geschäft”. Besonders virulent wird dies bei Rechtsanwälten. Wie soll sich z. B. ein angestellter Rechtsanwalt verhalten, wenn ein laufendes Gerichtsverfahren oder ein Haftprüfungstermin unvorhersehbar zu einer Überschreitung der ArbZG-Grenzen führt? Soll er sich an das ArbZG halten und die Verhandlung verlassen? Muss seine Sozietät als Arbeitgeber ihn notfalls hierzu zwingen? Und was ist zu tun, wenn unaufschiebbare, nicht verlängerbare gesetzliche (Not-)Fristen gewahrt werden müssen? Die Zahl der Beispiele ließe sich beliebig verlängern, von der Fertigstellung der steuerlichen Selbstanzeige noch schnell vor einer offensichtlich bevorstehenden Durchsuchungsaktion über einen Arrestantrag bis hin zur Prüfung, ob und zu welchem genauen Zeitpunkt eine Insider-Tatsache ad hoc publizitätspflichtig ist. Natürlich könnte man argumentieren, die Einhaltung des Arbeitszeitrechts für angestellte Rechtsanwälte stehe über allem, und die geschilderten eilbedürftigen Situationen ließen sich unschwer dadurch auflösen, dass die Partner (die als Selbstständige nicht unter das ArbZG fallen) zeitkritische Mandate dann eben vollständig selbst bearbeiten, oder aber dass sie ihre angestellten Rechtsanwälte zügig zu Partnern machen. Anders herum wird mitunter gefordert, Rechtsanwalte müssten ihre Mandanten halt dahingehend erziehen, dass die bislang gewohnten knappen Fristen bei strikter Einhaltung des Arbeitszeitrechts künftig nicht mehr einzuhalten sind. Wieder andere meinen, zeitkritische Mandate müssten vorsorglich mit zwei oder mehr angestellten Anwälten besetzt werden, die sich notfalls abwechseln könnten. All diese Lösungsansätze sind letztlich weltfremd.
Was Not tut, ist eine grundlegende Novellierung des Arbeitszeitrechts. Das oft zu hörende Argument, hier seien dem nationalen Gesetzgeber wegen seiner Bindung an die EU-Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG die Hände gebunden, trifft schlicht nicht zu. Tatsächlich lässt die EU-Richtlinie durchaus Spielräume, die der nationale Gesetzgeber nutzen könnte, wenn er denn wollte. Insbesondere erlaubt die Richtlinie Abweichungen, wenn die Arbeitszeit wegen der besonderen Merkmale der ausgeübten Tätigkeit nicht gemessen und/oder nicht im Voraus festgelegt wird oder von den Arbeitnehmern selbst festgelegt werden kann. Das trifft auf die Tätigkeit vieler angestellter Freiberufler und insbesondere auf angestellte Rechtsanwälte ohne Weiteres zu. Mit einer 1:1-Übernahme dieser Ausnahmeregelung ins ArbZG wäre also schon viel gewonnen. Tatsächlich ist der Gesetzgeber bei angestellten Wirtschaftsprüfern mit § 45 S. 2 WPO einen ähnlichen Weg gegangen, indem er Wirtschaftsprüfer pauschal zu leitenden Angestellten erklärt hat, was dann über § 18 ArbZG zur Nichtanwendbarkeit des ArbZG führt. Vergleichbare Regelungen für andere zeitkritisch arbeitende Freiberuflicher wie Rechtsanwälte oder Steuerberater wären denkbar und bei Rechtsanwälten im Interesse einer geordneten Rechtspflege (Stichwort: “Organ der Rechtspflege”) auch geboten.
Bei alledem darf freilich nicht übersehen werden, dass auch bei angestellten Freiberuflern das Arbeitszeitrecht nicht per se obsolet ist. Das Anliegen des Gesetzgebers, durch summenmäßige Begrenzung der Arbeitszeit im Interesse des Gesundheitsschutzes Angestellte vor (Selbst-) Ausbeutung zu schützen, ist auch bei den freien Berufen berechtigt. Die Probleme der Vereinbarkeit des Arbeitszeitrechts mit den Eigenheiten freiberuflicher Tätigkeit bestehen nicht im Hinblick auf die Summe der Arbeitszeit, sondern auf deren Lage und tägliche Höchstdauer. Nichts spricht gegen eine Pflicht, Feuerwehreinsätze durch Ausgleichsregelungen zu kompensieren. Nur müssen diese halt hinreichend flexibel sein. Zwingende elfstündige Ruhezeiten sind es jedenfalls nicht.
In der Vergangenheit hat es immer wieder Initiativen der Freiberufler-Verbände gegeben, auf ein flexibleres Arbeitszeitrecht hinzuwirken. Diese Anstrengungen sollten in der aktuellen Situation verdoppelt werden.
Prof. Dr. Martin
Diller
, RA/FAArbR, ist Partner bei Gleiss Lutz, Stuttgart, und Honorarprofessor an der Universität Würzburg. Schwerpunkte seiner Tätigkeit sind u. a. das Betriebsverfassungsrecht, Tarifvertragsrecht, Restrukturierungen und Outsourcing sowie die betriebliche Altersversorgung.
Diller, BB 2023, Heft 08, Umschlagteil, I