Mindestlohnerhöhung: Ein zweifelhafter Beschluss
Die EU hat mit diesen Vorgaben ultra vires, also jenseits ihrer Ermächtigung gehandelt.
Am 27.6. hat die Mindestlohnkommission beschlossen, dass der gesetzliche Mindestlohn zum 1.1.2026 auf 13,90 Euro und zum 1.1.2027 auf 14,60 Euro brutto je Zeitstunde erhöht werden soll. Der Weg dahin verlief nicht ganz reibungslos. Anders als zuletzt kam es aber nicht zum Eklat. Der aktuelle Beschluss beruht allerdings auf einer zweifelhaften Grundlage.
Die Einführung des allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns war ein Herzenswunsch der DGB-Gewerkschaften. SPD, Grüne und Linke machten sich diese Forderung früh zu eigen. CDU/CSU und FDP lehnten dieses Instrument lange Zeit ab. Die Einführung wurde 2013 im Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und SPD vereinbart.
Daran gab es viel Kritik. Teilweise wird ein nicht zu rechtfertigender Eingriff in die Tarifautonomie angenommen. Und viele befürchteten, dass die Entgeltfestsetzung zum “Spielball der Politik” würde.
Nach Einführung des Mindestlohngesetzes (MiLoG) war es zunächst ruhig um den Mindestlohn. Das lag wesentlich an der Arbeit der Mindestlohnkommission. Den Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretern gelang es in den ersten drei Beschlüssen, gemeinsam Vorschläge für die Erhöhungen zu beschließen. Der Mindestlohn konnte so von 8,50 Euro im Jahr 2015 auf 10,45 Euro im Jahr 2022 steigen.
2021 passierte dann, wovor Kritiker gewarnt hatten: Der Mindestlohn wurde zum Wahlkampfthema. SPD, Grüne und Linke überboten sich in ihren Forderungen nach einer Erhöhung. Die wurde im Koalitionsvertrag der sog. “Ampel” vereinbart und anschließend umgesetzt. In § 1 Abs. 2 MiLoG wurde festgelegt, dass der Mindestlohn “ab dem 1. Oktober 2022 brutto 12 Euro je Zeitstunde” beträgt. Das führte zu Streit in der Mindestlohnkommission.
Sie beschloss am 26.6.2023 eine Erhöhung zum 1.1.2024 auf 12,41 Euro und zum 1.1.2025 auf 12,82 Euro. Anders als bisher gab es darüber aber keine Einigung zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften. Die Erhöhungen wurden mit den Stimmen der Arbeitgeberseite und der Vorsitzenden Christine Schönefeld – Juristin und ehemaliges Vorstandsmitglied der Bundesagentur für Arbeit – auf deren Vorschlag hin gegen die Stimmen der Arbeitnehmerseite beschlossen.
Die Kommissionsmehrheit orientierte sich entsprechend den gesetzlichen Vorgaben nachlaufend an der Tarifentwicklung und wandte den Anstieg des Tarifindex auf den letzten Kommissionswert von 10,45 Euro an. So ergab sich eine Steigerung auf zunächst 12,41 Euro.
Dagegen wandten sich die Gewerkschaftsvertreter. In einer Stellungnahme kritisierten sie, die Kommissionsmehrheit habe den vom Gesetzgeber abgelösten, zuvor geltenden Mindestlohn von 10,45 Euro als Grundlage der Erhöhung herangezogen und damit die Intention des Gesetzgebers missachtet, den Mindestschutz der Beschäftigten zu gewährleisten. Sie verwiesen zudem auf die EU-Richtlinie über angemessene Mindestlöhne (Richtlinie (EU) 2022/2041; MiLo-RL), auf deren Basis sich nach ihren Angaben eine Lohnuntergrenze von mindestens 14 Euro ergeben hätte.
Auch 2025 gelang es den Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretern zunächst nicht, sich über die künftigen Erhöhungen zu einigen. Sie stimmten dann aber einem Vermittlungsvorschlag der Vorsitzenden zu. In dem Beschluss heißt es dazu, dass sich die Kommission “an den im Mindestlohngesetz und der Geschäftsordnung der Mindestlohnkommission genannten Kriterien orientiert” hat. Das ist problematisch.
Gemäß § 9 Abs. 2 MiLoG prüft die Kommission im Rahmen einer Gesamtabwägung, welche Höhe des Mindestlohns geeignet ist, zu einem angemessenen Mindestschutz der Arbeitnehmer beizutragen, faire und funktionierende Wettbewerbsbedingungen zu ermöglichen sowie Beschäftigung nicht zu gefährden. Sie orientiert sich dabei nachlaufend an der Tarifentwicklung. Diese Vorgaben waren in der Geschäftsordnung der Kommission dahingehend konkretisiert, dass die Anpassung “im Regelfall gemäß der Entwicklung des Tarifindex des Statistischen Bundesamtes ohne Sonderzahlungen auf Basis der Stundenverdienste in den beiden vorhergehenden Kalenderjahren” erfolgt.
Mit Wirkung zum 21.1.2025 wurde die Geschäftsordnung geändert. Die Kommission orientiert sich nun “im Rahmen einer Gesamtabwägung nachlaufend an der Tarifentwicklung sowie am Referenzwert von 60 % des Bruttomedianlohns von Vollzeitbeschäftigten nach Artikel 5 Absatz 4 sowie an den Kriterien nach Artikel 5 Absatz 2” der MiLo-RL, “um die in § 9 Absatz 2 Satz 1 MiLoG und Artikel 5 Absatz 1 der EU-Mindestlohnrichtlinie genannten Ziele zu erreichen”. Der Tarifindex wird nur noch “berücksichtigt”.
Das führt zu einer stärkeren Gewichtung sozialer Aspekte. Ziel der MiLo-RL ist es, “einen angemessenen Lebensstandard zu erreichen, die Armut trotz Erwerbstätigkeit zu verringern, den sozialen Zusammenhalt und die soziale Aufwärtskonvergenz zu fördern und das geschlechterspezifische Lohngefälle zu verringern” (Art. 5 Abs. 1 S. 2 MiLo-RL). Entsprechend sind die Kriterien zur Entgeltfestsetzung gestaltet.
Das Problem: Die EU hat mit diesen Vorgaben ultra vires, also jenseits ihrer Ermächtigung gehandelt. Das Europäische Parlament und der Rat der EU stützen sich auf “den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union” (AEUV), “insbesondere auf Artikel 153 Absatz 2 Buchstabe b in Verbindung mit Artikel 153 Absatz 1 Buchstabe b”. Danach kann die EU auf dem Gebiet der Arbeitsbedingungen durch Richtlinien Mindestvorschriften erlassen. Allerdings gilt diese Ermächtigung ausdrücklich “nicht für das Arbeitsentgelt” (Art. 153 Abs. 5 AEUV).
Darauf wies die juristische Literatur frühzeitig hin. Dänemark und Schweden fordern, dass die Richtlinie für nichtig erklärt wird. Der Generalanwalt am Gerichtshof der Europäischen Union hat sich in seinem Schlussantrag vom 14.1.2025 ihrer Auffassung angeschlossen und die Aufhebung der MiLo-RL empfohlen (Rs. C-19/23, ECLI:EU:C:2025:11). Sie sei mit Art. 153 Abs. 5 AEUV unvereinbar.
Der EuGH folgt in den meisten Fällen (rund 75 %) der Einschätzung des Generalanwalts. Zwingend ist das freilich nicht. Und so darf man wieder einmal gespannt sein, wie es mit dem Mindestlohn weitergeht.
Prof. Dr. Arnd
Diringer
lehrt an der Hochschule Ludwigsburg und ist Leiter der Forschungsstelle für Arbeitsrecht. Er ist Gründungsbeirat im Bundesverband der Arbeitsrechtler in Unternehmen (BVAU e. V.), Mitinitiator des “Expertenforum Arbeitsrecht” (#EFAR) und Mitherausgeber der Zeitschrift “Weiterdenken”, dem neuen liberalen Diskussionsforum.
Diringer, BB 2025, Heft 43, Umschlagteil, I