Das Tariftreuegesetz – Stärkung der Tarifautonomie durch Schwächung der Tarifbindung?
Ein erneuter untauglicher Versuch zur Stärkung der Tarifautonomie.
Nach einem vergeblichen Versuch im Mai 2023 hat das BMAS am 5.9.2024 einen neuen Referentenentwurf eines Tariftreuegesetzes vorgelegt. Öffentliche Aufträge des Bundes mit einem Volumen ab 25 000 Euro sollen nur noch solche Arbeitgeber erhalten können, die zugunsten der zur Leistungserbringung eingesetzten Arbeitnehmer für die Auftragsdauer die Tarifverträge der jeweiligen Branche beachten. Hierbei müssen die Betriebe nicht tarifgebunden sein. Es reicht aus, wenn die Tarifverträge der Branche angewandt werden. In Betrieben mit konkurrierenden Gewerkschaften soll eine Clearingstelle entscheiden, welcher Tarifvertrag beachtet werden soll. Nach dem Gesetzesentwurf soll dies der “repräsentativere” Tarifvertrag sein; wie dies mit § 4a TVG in Einklang zu bringen sein soll, lässt der Gesetzesentwurf offen. Das Gesetz regelt – quasi durch die Hintertür – zusätzlich das digitale Zugangsrecht der Gewerkschaften zum Betrieb, das ohnehin bereits durch die Rechtsprechung aus der Koalitionsfreiheit abgeleitet wird. Man muss sich fragen, welchen Mehrwert das Gesetz eigentlich mit sich bringt, zumal Einzelfragen wie die Häufigkeit des Zugangs und die Nutzung bestimmter Kommunikationskanäle gerade nicht geregelt werden. Der Arbeitgeber soll dazu verpflichtet werden, die betrieblichen E-Mail-Adressen der Arbeitnehmer an die Gewerkschaft herauszugeben; ob dies mit datenschutzrechtlichen Regelungen in Einklang zu bringen ist, wird noch zu klären sein. Sinnvoller wäre es gewesen, diesen Komplex zunächst einmal auszuklammern und zusammen mit einer umfassenden Digitalisierung des Betriebsverfassungsrechts zu regeln. Schließlich soll bei der Ausgliederung von Betrieben innerhalb eines Konzerns im Wege der Nachbindung auch weiterhin der vereinbarte Tarifvertrag gelten.
Die Tarifautonomie, also die Freiheit von Gewerkschaften, Arbeitgebern und Arbeitgeberverbänden, die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen eigenverantwortlich und ohne staatliche Einmischung zu regeln, ist ein wesentlicher Bestandteil unserer verfassungsmäßigen Ordnung. Sie dient zugleich der Sicherung des sozialen Friedens und damit auch der Festigung der Demokratie, gerade in turbulenten Zeiten. Seit Jahrzehnten ist ein Rückgang des Organisationsgrades zu verzeichnen. Gewerkschaften verlieren Mitglieder, was insbesondere auf gesellschaftliche Entwicklungen, einen Wandel der Beschäftigtenstruktur und eine mangelnde Attraktivität vieler Gewerkschaften zurückzuführen ist. Arbeitgeber, insbesondere Tochtergesellschaften ausländischer Unternehmen und Start-ups meiden die Bindung an fremdbestimmte und als starr empfundene tarifliche Regelungen. Nach Daten des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) sind nur noch 24 % der Betriebe in Deutschland tarifgebunden.
Durch das Gesetz soll eine Stärkung der Tarifautonomie erreicht werden. Hierzu sieht sich der Gesetzgeber wohl auch veranlasst, weil die EU-Mindestlohnrichtlinie für die “tarifvertragliche Abdeckung” einen Zielwert von 80 % definiert. Doch können Anreize zur erweiterten Tarifgeltung, also zur Ausweitung der Tarifanwendung, die Tarifautonomie wirklich stärken? Der Ansatz des Gesetzgebers ist ganz ähnlich wie schon bei der Lockerung der Anforderungen für die Allgemeinverbindlichkeit, der Tariferstreckung nach dem Arbeitnehmerentsendegesetz und beim gesetzlichen Mindestlohn. Die Geltung tariflicher Regelungen oder eines sonstigen Mindestschutzes soll ausgeweitet werden und damit auch für Unternehmen und Arbeitnehmer gelten, die nicht tarifgebunden sind. Schon im Zusammenhang mit der Allgemeinverbindlichkeit hat das Bundesverfassungsgericht im Jahr 2020 allerdings darauf hingewiesen, dass diese zwar den konkreten Tarifvertrag stärke, die Attraktivität der Mitgliedschaft hingegen schwäche.
Damit setzen die staatlichen Interventionen aber gerade keinen Anreiz für einen Beitritt zu Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden. Vielmehr wird eine Mitgliedschaft umso unattraktiver, je mehr die Tarifgeltung auch auf nichtorganisierte Arbeitnehmer und Arbeitgeber ausgeweitet wird. Ähnlich wie die vorangegangenen gesetzlichen Maßnahmen ist das Tariftreuegesetz also ein Tarifautonomieschwächungsgesetz.
Will man die Tarifautonomie stärken, muss die Mitgliedschaft in Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden gefördert werden. Dies ist in erster Linie eine Aufgabe der Verbände selbst. Tarifautonomie bedeutet gerade, dass der Staat sich mit Interventionen zurückhält und die Regelung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen den Tarifvertragsparteien überlässt.
Allenfalls über unterstützende Maßnahmen, die die Attraktivität der Verbandsmitgliedschaft fördern könnten, ließe sich nachdenken. Von Gewerkschaftsseite werden insoweit die (verfassungsrechtlich höchst problematische) erweiterte Zulässigkeit von Differenzierungsklauseln, die steuerliche Privilegierung der Gewerkschaftsmitgliedschaft sowie Solidaritätsbeiträge für Außenseiter-Arbeitnehmer gefordert. Des Weiteren bringt die Arbeitnehmerseite Veränderungen bei der OT-Mitgliedschaft und Begrenzungen der Tarifgeltung durch Bezugnahmeklauseln ins Gespräch. Fragt man sich, weshalb Arbeitgeber eine Tarifbindung vermeiden, dann ist ein wesentlicher Beweggrund sicherlich die Schwierigkeit, sich aus der einmal begründeten Tarifbindung wieder zu befreien. Hier wäre darüber nachzudenken, ob man die Nachbindung und Nachwirkung von Tarifverträgen begrenzt. Der aktuelle Vorstoß des Gesetzgebers weist in die gegenläufige Richtung und erweitert die Nachbindung nach § 3 Abs. 3 TVG sogar. Maßnahmen zur Eindämmung übermäßiger Streikmaßnahmen könnten die Mitgliedschaft ebenfalls fördern. Hier wäre an eine detaillierte Kodifizierung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, eine Konkretisierung der Reichweite der Friedenspflicht und Begrenzungen des Streikrechts in der kritischen Infrastruktur zu denken.
Wenn uns daran gelegen ist, eine funktionsfähige Tarifautonomie dauerhaft zu sichern, sollten alle auf dem Tisch liegenden Vorschläge ernst genommen und diskutiert werden. Ein Tariftreuegesetz hilft uns hier allerdings ganz sicher nicht weiter.
Solange zielführende Maßnahmen des Gesetzgebers auf sich warten lassen, können die Tarifvertragsparteien selbst zur Förderung der Tarifautonomie beitragen. Jüngste Beispiele von schuldrechtlichen oder tariflichen Vereinbarungen über eine echte Sozialpartnerschaft weisen in die richtige Richtung.
Thomas
Ubber
, RA/FAArbR, ist Partner bei Allen Overy Shearman Sterling LLP in Frankfurt am Main und verfügt über langjährige Erfahrungen in allen Bereichen des Individual- und Kollektivarbeitsrechts. Er gilt als ausgewiesener Spezialist bei der rechtlichen Begleitung von Tarifverhandlungen und insbesondere der Abwehr von Streikmaßnahmen.
Ubber, BB 2024, Heft 41, Umschlagteil, I