Befreiende Anwendung der IFRS im Einzelabschluss deutscher Unternehmen: Ist die Zeit reif?
Nach fast 20 Jahren IFRS in Deutschland ist die Zeit gekommen, die Frage nach einer befreienden Anwendung der IFRS im Einzelabschluss erneut zu stellen.
Schon bei der Einführung der International Financial Reporting Standards (IFRS) in der Europäischen Union (EU) Mitte der 2000er Jahre stellte sich in Deutschland die Frage, ob nicht die Gelegenheit genutzt werden sollte, einen befreienden IFRS-Einzelabschluss zumindest zu ermöglichen. Dies wurde damals durchaus kontrovers diskutiert – und dies nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass die IFRS im Wesentlichen Informationsfunktion haben, der handelsrechtliche Einzelabschluss aber traditionell auch anderen Zwecken wie der Steuer- und Ausschüttungsbemessung sowie dem Gläubigerschutz dient. Dazu mag auch eine Portion Angst vor dem Unbekannten gekommen sein, da Konzernabschlüsse auf IFRS-Basis in Deutschland mit wenigen Ausnahmen nicht zu beobachten waren und Konzerne mit United States-(US-)Notierung die US Generally Accepted Accounting Principles (GAAP) anwendeten. Am Ende hat sich der deutsche Gesetzgeber gegen die Möglichkeit einer befreienden Aufstellung des Einzelabschlusses nach IFRS ausgesprochen. Es wurde jedoch eine (zusätzliche) Offenlegung eines solchen Abschlusses ermöglicht, die aber in der Praxis wegen des größeren Aufwands faktisch nicht genutzt wird.
Springen wir in die Gegenwart: Für viele Außenstehende vielleicht etwas überraschend hat das Deutsche Rechnungslegungs Standards Committee (DRSC) eine Evaluation zur Anwendung der IFRS in Deutschland gestartet mit dem Ziel einer objektiven Aufnahme des Status quo und der verschiedenen Stakeholder-Perspektiven. Das kommt nicht von ungefähr:
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Mit der Einführung einer globalen Mindestbesteuerung (“Pillar 2”) halten die IFRS-Vorschriften Einzug in die Steuerbemessung.
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Der International Accounting Standards Board (IASB) wird noch im Mai diesen Jahres einen neuen Standard veröffentlichen, der Tochterunternehmen/Teilkonzernen von IFRS-Konzernen ein reduziertes Angabenregime für deren Abschlüsse ermöglichen wird.
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Zudem wird von einigen Steakholdern schon seit jeher – und in letzter Zeit wieder verstärkt – der Wunsch nach einem befreienden IFRS-Einzelabschluss vorgetragen.
Das EU-Recht steht dem übrigens nicht entgegen, und der Blick in das EU-Ausland zeigt, dass viele Mitgliedstaaten es Unternehmen ermöglichen oder sie gar verpflichten, die IFRS im Einzelabschluss anzuwenden.
Woran scheiterte es also bislang in Deutschland, und wie kann der Weg nach vorne aussehen? Das Feedback Statement des DRSC gibt hier schon ein erstes Stimmungsbild – es ist Ergebnis der Phase 1 der Erhebung, in der Interviews mit den relevanten Stakeholder-Gruppen geführt wurden. Die ablehnenden Stimmen führen vor allem folgende Argumente an:
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Der bestehende Rechtsrahmen im HGB “funktioniert” – er erfüllt die mit ihm verbundenen Zwecksetzungen.
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Reine HGB-Bilanzierer sehen keine Vorteile in der Nutzung der IFRS. Man befürchtet jedoch einen faktischen Zwang bei einem offenen Wahlrecht.
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Ein Wahlrecht würde es notwendig machen, dass das gesamte Rechnungslegungsökosystem auch IFRS “lernen” muss, seien es die Steuerbehörden oder auch Juristen.
Diesen Argumenten halten die Befürworter im Wesentlichen folgende Argumente entgegen:
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IFRS-Konzerne steuern sich i. d. R. nach IFRS, und auch etwaige Ausschüttungen werden auf dieser Basis geplant und kommuniziert.
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Die parallele Buchhaltung nebst Vorhalten des entsprechenden Wissens verursacht vermeidbare Kosten bei IFRS-Bilanzierern (im Wesentlichen kapitalmarktorientierte Unternehmen).
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Die Steuerbemessung hat sich in den letzten Jahrzehnten immer mehr entkoppelt vom handelsrechtlichen Ergebnis, die Maßgeblichkeit gibt es so nicht mehr – auch aufgrund der Abschaffung der umgekehrten Maßgeblichkeit durch das Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz im Jahr 2009. Am Ende ist nur der Ausgangspunkt (IFRS oder HGB) ein anderer, um zu einer steuerlichen Bemessungsgrundlage zu gelangen.
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Know-how zu HGB ist im Wesentlichen nur im deutschsprachigen Raum vorhanden, was angesichts des Fachkräftemangels ein Nachteil gegenüber den internationalen IFRS ist.
Die Gräben zwischen diesen beiden Positionen sind weiterhin tief. Ein Wahlrecht wird von vielen als mögliche Lösung gesehen. Wie oben dargestellt, wird jedoch von einigen Stakeholdern ein faktischer Zwang erwartet, falls das Wahlrecht offen ausgestaltet wird. Für diese Vermutung gibt es jedoch bislang keine empirische Evidenz oder aktives Einfordern von etwaigen “Nutzern” wie z. B. finanzierenden Banken. Ausräumen ließen sich diese Bedenken, wenn das Wahlrecht auf Unternehmen beschränkt wird, die in einen IFRS-Konzern eingebunden sind.
Die Diskussion zur Fortentwicklung des Bilanzrechts in Richtung einer – wie auch immer gestalteten – Option zur befreienden Anwendung der IFRS im Einzelabschluss kommt zum richtigen Zeitpunkt. Es wäre eine sinnvolle Ergänzung und würde zur Entlastung von Unternehmen führen, die ohnehin nach IFRS bilanzieren. Daneben würde es uns als global orientierter Volkswirtschaft mit grenzüberschreitend agierenden Unternehmen gut zu Gesicht stehen, die weltweit akzeptierten IFRS (optional) weiter in unsere Rechnungslegungslandschaft zu integrieren.
Das DRSC hat mit der Phase 2 seiner Erhebung, die bis zum 30.6.2024 läuft, kürzlich begonnen, zunächst mit der Gruppe der Abschlussersteller. Wer an der Fortentwicklung des Bilanzrechts mitwirken will, sollte seine Meinung aktiv kundtun. Die Zeit ist reif.
Dipl.-Kfm.
Jens
Berger
, CPA, ist Partner bei der Deloitte GmbH WPG in Frankfurt a. M. und Leiter des IFRS and Corporate Reporting Centre of Excellence. Er ist Mitglied des Global IFRS Leadership Team von Deloitte sowie des Beirats im Betriebs-Berater und wirkt in diversen Arbeitskreisen und -gruppen bei der European Financial Reporting Advisory Group (EFRAG), Accountancy Europe, dem Institut der Wirtschaftsprüfer (IDW) und dem Deutschen Rechnungslegungs Standards Committee (DRSC). Er gibt in diesem Beitrag seine persönliche Meinung wieder.
Berger, BB 2024, Heft 18, Umschlagteil, I