Abseits der Anwendungsorientierung – ein Eigentor der Steuerlehre?
Keine Betriebswirtschaftslehre ohne Anwendungsorientierung – Eine klare Aussage der Praxis ist notwendig.
Die Betriebswirtschaftliche Steuerlehre und die Betriebswirtschaftslehre im Gesamten in Deutschland und Österreich sehen mit dem Jahr 2019 auf eine überaus erfolgreiche 100-jährige Geschichte zurück. Insofern stellt sich die Frage, ob mit der zunehmenden Ausrichtung am statistisch-empirischen Forschungsansatz und der damit in weiten Teilen verbundenen Aufgabe der klassischen normativen Forschung der Methodenpluralismus und das Fundament der Betriebswirtschaftslehre verloren gehen (vgl. ausführlich dazu mit zahlreichen Verweisen Küting u. a., DB 2013, 2097 ff.; Kußmaul u. a., DB 2017, 1337 ff.; Kußmaul/Licht, Ubg 2017, 471 ff.; Licht, DStR 2018, 1578 ff.). “Traditionell sind die zentralen Fragen der Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre: (1) Was muss der Kaufmann tun, um die gesetzlichen Vorschriften zu erfüllen? (2) Was kann und darf er tun, um möglichst wenig Steuern zu zahlen?” (so treffend Marx, SteuerStud 2009, 521). In der Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre, in der Rechnungslegung bzw. Wirtschaftsprüfung und in der gesamten Betriebswirtschaftslehre besteht die Tendenz, vorrangig solche Nachwuchswissenschaftler zu berufen, die viel in internationalen, vor allem US-amerikanischen Zeitschriften veröffentlicht haben, so dass die späteren Lehrstuhlinhaber zwar international, aber fachfremd sind, wobei die Studierenden die Leidtragenden sind (so als Erster Schneeloch, in: Siegel u. a. [Hrsg.], FS Bareis, 2005, S. 266 f.). Im Ergebnis ist die deutsche Betriebswirtschaftslehre wie der deutsche Fußball Weltstandard, ihre Qualität wird aber nun nach den Regeln des American Football beurteilt, weil die Spielregeln geändert wurden.
Bei Wegfall der normativen Forschung sind nicht nur negative Wirkungen auf die Lehre unvermeidbar, es wird sogar von einem “Abrutschen in ein gesellschaftspolitisches Hinterwäldlertum” gesprochen (so Schneider/Bareis/Siegel,DStR 2013, 1145). Auch wird auf das Ausbleiben der Diskussion ökonomischer Zusammenhänge bei einem Austrocknen der normativen Forschung hingewiesen (so Siegel u. a., FR 2013, 1129 f.). Im Kontext der Einheit von Forschung und Lehre stellt Schildbach (DStR 2017, 1554) mit Recht fest: “Ob von normativer Forschung getrennte Lehre überhaupt Wissen und Fähigkeiten vermitteln kann, die über den aktuellen Stand der Regelungen zu Rechnungslegung und Steuern dauerhaft wertvolle Orientierung gewährleisten, erscheint fraglich.” Auch wird die Frage gestellt, ob die angelsächsische Forschung der deutschen überlegen ist (so Hering, BFuP 2017, 124). Parallel könnte man sich überlegen, ob der American Football dem deutschen bzw. europäischen Fußball überlegen ist. Eines der Kernprobleme stellt die rankinggesteuerte Wissenschaft dar, welche risikoreiche Forschung hemmt und Längsdenken statt Querdenken fördert; in diesem Zusammenhang wird das Rankingwesen mit Kreditratings verglichen, bei denen eine Agentur auf der Basis unzureichender Informationen Bewertungen erstellt, um Akteure, die noch weniger als die Agentur über die bewerteten Institutionen wissen, zu Entscheidungen zu veranlassen (so Kieser/Osterloh, FAZ vom 24.12.2013, N5). Böse Zungen könnten das Rating als Ratespiel und das Ranking als Ränkespiel bezeichnen.
Eine praxisferne, nur empirische Lehre führt zu einem Auseinanderdriften von Lehre und Praxis und damit zu einer Abkopplung vom nichtwissenschaftlichen Arbeitsmarkt (so ähnlich Siegel u. a., FR 2013, 1130). Aus meiner Sicht muss die gesamte Betriebswirtschaftslehre umdenken, damit sie ihrer Aufgabe als anwendungsorientierte Wissenschaft gerecht wird. Sie hat immer vom Dialog mit der Praxis gelebt. Eine Rückbesinnung auf eine theoriebasierte Forschung – selbstverständlich bei gleichzeitiger Akzeptanz des empirischen Forschungsansatzes und damit des Methodenpluralismus – führt sowohl zu einer Fortentwicklung der Normen als auch zu einer theoriefundierten und praxisfähigen Ausbildung der Studierenden. Es besteht kein Zweifel daran, dass sich die deutschsprachige Betriebswirtschaftslehre dem Internationalisierungsprozess stellen muss und dass die Empirie zu wertvollen Forschungsergebnissen führt, dies soll aber nicht zur Verdrängung des normativen Forschungsansatzes führen. Es wäre überaus wünschenswert und notwendig, wenn sich die Praxis im Sinne der Einheit von Forschung und Lehre artikulieren würde. Aus meiner Sicht sollte man sich nicht den Regeln des American Football unterwerfen, sondern sich nach denen des deutschen bzw. internationalen Fußballs richten. Wenn die Betriebswirtschaftslehre nach gut 100 Jahren ihre Wurzeln verliert, stellt sich die Frage, ob sie ihr Spielfeld behalten kann. Möge sich der Vergleich mit dem Titel des köstlichen Buchs von Jonas Jonasson erübrigen: “Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand.”
Der Verfasser hat sich mit dem Festvortrag zu diesem Thema beim Forum für Rechnungslegung und Steuern e. V. Bremen anlässlich der Verleihung des Bremer Steuer-Schlüssels 2023 für herausragende Leistungen auf dem Gebiet der Steuerwissenschaft am 2.5.2023 im Großen Saal der Handelskammer Bremen, dem Haus Schütting, unter großer Beteiligung von Wissenschaftlern, Studierenden und Praktikern umfassend geäußert.
Prof. Dr. Heinz
Kußmaul
ist Direktor des BLI (Betriebswirtschaftliches Institut für Steuerlehre und Entrepreneurship, Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre, insb. Betriebswirtschaftliche Steuerlehre, Institut für Existenzgründung/Mittelstand) an der Universität des Saarlandes und Mitglied der Forschungsgruppe anwendungsorientierte Steuerlehre (FAST).
Kußmaul, BB 2023, Heft 23, Umschlagteil, I