Von der Coronapandemie zur Energiekrise – Betriebsschließungen und die Frage des Betriebsrisikos
Werden allein energieintensive Betriebe geschlossen, ließe sich ein Betriebsrisiko durchaus bejahen.
Nicht nur Wohnungseigentümer und Mieter blicken besorgt auf die Entwicklung der Preise für Strom, Öl und Gas. Auch mancher Arbeitgeber wird sich bereits gefragt haben, ob und wie lange er seinen Betrieb wie bislang weiterführen kann. Betriebliche Energiesparmaßnahmen können zum Teil viel bewirken, doch klar ist auch: Das Sparpotenzial ist begrenzt. Damit drängt sich die Frage auf, was geschieht, wenn der Betrieb infolge der Energieknappheit vorübergehend nicht fortgesetzt wird. Im Arbeitsrecht stellt sie sich insbesondere mit Blick auf das Vergütungsrisiko.
Als Durchbrechung des Grundsatzes “Ohne Arbeit kein Lohn” ordnet hier § 615 BGB eine Lohnfortzahlung an, wenn der Arbeitgeber sich in Annahmeverzug befindet (S. 1) oder er das Risiko des Arbeitsausfalls trägt (S. 3, sog. Betriebsrisiko). Zur Differenzierung ist nach der in der Praxis maßgeblichen Betriebsrisikolehre auf erster Stufe zu fragen, ob ein Fall der Annahmeunwilligkeit (dann S. 1) oder ein solcher der Annahmeunmöglichkeit (dann u. U. S. 3) vorliegt. Anschaulich wird dies anhand der Entscheidungen des BAG im Kontext der Coronapandemie (13.10.2021 – 5 AZR 211/21, BB 2022, 377 m. BB-Komm. Ley; 4.5.2022 – 5 AZR 366/21, NZA 2022, 1113): Dort unterschied das Gericht zunächst danach, ob der Arbeitgeber den Betrieb etwa wegen Absatzmangels oder zahlreicher Krankheitsfälle eigenverantwortlich stillgelegt hatte, infolge höherer Gewalt schließen musste oder einer behördlichen Anordnung Folge zu leisten hatte. Der erste Fall ist ein solcher des Wirtschaftsrisikos und damit des § 615 S. 1 BGB – das Vergütungsrisiko trifft den Arbeitgeber. Auf die Energiekrise lässt sich das übertragen: Entscheidet der Arbeitgeber, den Betrieb nicht fortzuführen, weil dies infolge der gestiegenen Energiepreise unwirtschaftlich wäre, so befreit ihn das grundsätzlich nicht von der Pflicht, seine Arbeitnehmer zu vergüten. Und auch der Fall der höheren Gewalt kann im Zuge der Energiekrise auftreten, so etwa bei Stromausfällen. Hier trägt der Arbeitgeber das Vergütungsrisiko nach § 615 S. 3 BGB. Dasselbe gilt, wenn Produktionsanlagen wegen Mangels an Öl, Kohle oder Gas nicht betrieben werden können.
Neben diese eher unstreitigen Fälle tritt jedoch derer, in dem die Schließung des Betriebs hoheitlich angeordnet wird. Mit den unmittelbaren Auswirkungen eines Naturereignisses, Stromausfalls oder Rohstoffmangels ist das nach den Corona-Entscheidungen des BAG vielleicht nicht gleichzusetzen. Gleichwohl liegt Annahmeunmöglichkeit vor, die das BAG aus dem Anwendungsbereich des § 615 S. 1 BGB ausklammert. Zur entscheidenden Frage wird damit, ob der Arbeitgeber nach § 615 S. 3 BGB das Risiko des Arbeitsausfalls trägt. Allein die Tatsache, dass die Betriebsstörung Folge einer hoheitlichen Anordnung ist, schließt eine Risikotragung des Arbeitgebers nicht aus. Das veranschaulichen auch älteste Entscheidungen zur hoheitlich verfügten Landestrauer: Können Musikveranstaltungen infolge einer solchen nicht stattfinden, soll der Arbeitgeber das Vergütungsrisiko tragen (RAG, 27.3.1935 – RAG 235/34, ARS 23, 219; BAG, 30.5.1963 – 5 AZR 282/62, BB 1963, 977). Auch eine Schließung durch einen Hoheitsträger kann also ein Fall des Betriebsrisikos sein. Kann – nicht muss. Entscheidendes Kriterium ist, ob sich ein in dem Betrieb angelegtes Risiko verwirklicht. Mit Blick auf die Coronapandemie differenzierte das BAG danach, ob die hoheitliche Betriebsschließungsanordnung Folge besonderer Arbeitsbedingungen war, die zusätzliche Ansteckungsrisiken bargen, oder vielmehr Teil eines betriebsübergreifenden Konzepts staatlicher Pandemiebekämpfung. Nur den ersten Fall betrachtete es als Fall des Betriebsrisikos. Das Gericht hatte hier insbesondere Fälle im Blick, in denen Hygieneempfehlungen nicht beachtet wurden. Eine parallele Fallgestaltung mit Blick auf die Energiekrise läge wohl vor, wenn eine Schließungsanordnung daran anknüpfte, dass innerhalb eines Betriebs unnötigerweise Strom oder Heizenergie verschwendet würde – ein praktisch eher nicht zu erwartender Fall.
Sollten sich Hoheitsträger entschließen, Betriebe aufgrund der Energieknappheit stillzulegen, dürfte dies wohl eher im Zuge allgemeiner Energiesparmaßnahmen erfolgen. Ob das allerdings heißt, dass sich kein Betriebs-, sondern ein allgemeines Lebensrisiko verwirklicht, lässt sich auf Basis der bislang ergangenen Rechtsprechung nur näherungsweise beantworten. Im Zuge der Coronapandemie hat das BAG eine besondere Eigenart des Betriebs in Form einer Publikumsaffinität nicht ausreichen lassen, um den Anwendungsbereich des § 615 S. 3 BGB zu eröffnen. An dem Kriterium des im Betrieb angelegten Risikos hielten die Richter aber grundsätzlich fest; sie sahen es aufgrund der Weite der verfügten Betriebsschließungen lediglich als nicht erfüllt an. Es dürfte damit entscheidend auf die Ausgestaltung der Betriebsschließungsverfügungen ankommen. Werden allein besonders energieintensive Produktionsstätten geschlossen, ist der Kreis betroffener Unternehmen deutlich enger als in Zeiten des Corona-Lockdowns. Hier ließe sich – parallel zu den Fällen der Landestrauer und der in der Literatur diskutierten Schließungen von luftverschmutzenden Betrieben bei Smog-Alarm – ein in der Natur des Betriebs angelegtes Risiko und damit eben ein Betriebsrisiko durchaus bejahen. Je weiter jedoch der Kreis der zu schließenden Betriebe gezogen wird, je weniger die Schließung Folge einer besonderen Ausrichtung des Betriebs ist, desto eher dürften die zur Coronapandemie entwickelten Leitlinien Anwendung finden und die Grenze zum allgemeinen Lebensrisiko überschritten sein.
Die hoheitliche Schließung von Betrieben muss als intensiver Eingriff in das Wirtschaftsleben ultima ratio bleiben. Wo sie sich nicht vermeiden lässt, müssen Entscheidungsträger die Folgen im Blick haben. Schließungsanordnungen bringen in jedem Fall finanzielle Belastungen mit sich, je nach Ausgestaltung für Arbeitgeber oder Arbeitnehmer. Das muss mit bedacht werden – ebenso wie finanzielle Unterstützungen, die notwendig sein dürften, um die nächste soziale oder wirtschaftliche Krise nicht entstehen zu lassen. Der Gesetzgeber mag Farbe bekennen, und durch ausdrückliche Regelungen deutlich machen, wem welches Risiko zumutbar ist.
Prof. Dr. Gregor
Thüsing
, LL.M. (Harvard), ist Direktor des Instituts für Arbeitsrecht und Recht der sozialen Sicherheit der Universität Bonn.
Dr. Lena
Bleckmann
ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Arbeitsrecht und Recht der sozialen Sicherheit der Universität Bonn und Rechtsreferendarin am Oberlandesgericht Köln.
Thüsing/Bleckmann, BB 2022, Heft 48, Umschlagteil, I