Disziplinierung der GDL gescheitert – Was kann das Tarifeinheitsgesetz leisten?

Disziplinierung der GDL gescheitert – Was kann das Tarifeinheitsgesetz leisten?

Abbildung 1

Das Tarifeinheitsgesetz muss konkurrierende Gewerkschaften und Arbeitgeber zu gemeinsamen Verhandlungen verpflichten. Anders sind Dauerkonflikte mit Minderheitsgewerkschaften kaum zu vermeiden.

Das TEG ist 2015 als Mittel zur Eindämmung unerwünschter Arbeitskämpfe von Minderheitsgewerkschaften verkauft worden. In der Begründung des Entwurfs der damaligen Bundesregierung heißt es, über die Verhältnismäßigkeit von Arbeitskämpfen müsse im Sinne des Prinzips der Tarifeinheit entschieden werden. Ein Arbeitskampf sei unverhältnismäßig, soweit dem zu erkämpfenden Tarifvertrag eine ordnende Funktion offensichtlich nicht mehr zukomme, weil die abschließende Gewerkschaft keine Mehrheit im Betrieb hat (BT-Drs. 18/4062, 12).

Die Erwartung, Streiks von Minderheitsgewerkschaften könnten mit dieser Argumentation als unverhältnismäßig und damit rechtswidrig eingestuft werden, hat ihre Rechnung nicht mit dem Bundesverfassungsgericht gemacht. Dieses hat in seinem Urteil über das TEG konstatiert, dass auch das Streikrecht einer Gewerkschaft, die in allen Betrieben nur die kleinere Zahl von Arbeitnehmern organisieren kann, unangetastet bleibt (BVerfG, 17.7.2017 – 1 BvR 1571/15, Rn. 140). Das gilt dann auch für eine Minderheitsgewerkschaft, die, wie die GDL, ihre Tarifzuständigkeit auf neue Arbeitnehmergruppen erstreckt. Eine Relativierung der Tarifzuständigkeit und damit der Arbeitskampfberechtigung je nach Organisationsgrad gibt es nicht.

Geblieben war die Hoffnung, die Streikbereitschaft der Mitglieder von Minderheitsgewerkschaften sinke, weil ihre Tarifverträge in den Betrieben ohnehin von den Tarifverträgen der Mehrheitsgewerkschaft verdrängt würden. Dass auch diese Hoffnung trügt, zeigt der Bahnstreik der GDL gerade eindrucksvoll. Die GDL kann ihre Mitglieder trotz TEG mobilisieren.

An diesem Erfolg der GDL haben die Bahn und die Konkurrenzgewerkschaft EVG selbst kräftig mitgewirkt. Sie haben sich zwar ohne Beteiligung der GDL auf einen Tarifvertrag geeinigt. In der Sorge, die GDL könnte doch erfolgreich sein, haben sie für diesen Fall aber in den Tarifvertrag ein Sonderkündigungsrecht der EVG, verbunden mit einer Verpflichtung zum Neuabschluss aufgenommen. Bei diesem Neuabschluss ist das aus den Tarifverträgen der EVG folgende Gesamtvolumen um das “Differenzvolumen” zu erhöhen. Differenzvolumen in diesem Sinne ist die Differenz zwischen den Gesamtkostenvolumen beider Tarifverträge im Überschneidungsbereich. So kommen von der GDL durchgesetzte Erhöhungen auch Mitgliedern der EVG zu Gute; nur die Verteilung zwischen diesen kann etwas anders erfolgen. Praktisch kämpfen die Mitglieder der GDL nicht nur für sich, sondern mittelbar auch für die Mitglieder der EVG.

Die Tarifrunde bei der Bahn beweist: Das TEG in seiner bisherigen Form taugt nicht, Tarifauseinandersetzungen mit konkurrierenden Gewerkschaften so zu ordnen, dass Arbeitskämpfe tunlichst vermieden werden. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen die Tarifvertragsparteien selbst einen modus vivendi finden.

Ein bloßes Stillhalteabkommen, wie es bei der Bahn zwischen 2015 und 2020 bestanden hat und jetzt von der GDL gekündigt worden ist, reicht dafür auf Dauer nicht aus. Dass jede Gewerkschaft Tarifverträge nur für ihre Kernklientel aushandelt und die andere diese Tarifverträge dann für ihre übrigen Mitglieder übernimmt, zementiert den Status quo. Zwar muss die Minderheitsgewerkschaft die Verdrängung ihrer Tarifverträge durch Mehrheitsentscheidung gemäß TEG nicht fürchten. Aber ihr ist der Weg zur Gewinnung neuer Beschäftigtengruppen und damit eine wichtige Zukunftsperspektive faktisch versperrt.

Notwendig sind deshalb gemeinsame Verhandlungen über alle von den beteiligten Gewerkschaften im Rahmen ihrer Tarifzuständigkeit gestellten Forderungen. Solche Verhandlungen setzen wechselseitige Rücksichtnahme und allseitiges Vertrauen voraus. Weder darf die Arbeitgeberseite die Gewerkschaften gegeneinander ausspielen, indem sie mit der einen ohne Rücksicht auf die andere abschließt. Noch dürfen die Gewerkschaften einander zu übervorteilen versuchen. Noch dürfen unmäßige Töne das Klima der Verhandlungen vergiften. Die Tarifautonomie befreit nicht von dem allgemeinen Gebot redlicher Verhandlungsführung.

Der Gesetzgeber könnte das Zustandekommen solcher gemeinsamen Verhandlungen durch eine Weiterentwicklung von § 4a Abs. 5 TEG fördern. Dort ist heute schon geregelt, dass die Arbeitgeberseite eine konkurrierende Gewerkschaft über die Aufnahme von Tarifverhandlungen informieren und dieser Gelegenheit geben muss, ihre Vorstellungen und Forderungen vorzutragen. Von dieser Verpflichtung ist es nur ein weiterer Schritt zur Verpflichtung von Arbeitgeberseite und Gewerkschaften, im Fall der Aufnahme von Tarifverhandlungen eine andere Gewerkschaft (oder auch einen anderen Arbeitgeberverband) auf deren Antrag in die Verhandlungen einzubeziehen. Mit der Institutionalisierung eines Dritten als Schlichter oder Moderator müsste eine solche gesetzliche Verpflichtung gar nicht verbunden werden. Arbeitgeberseite und konkurrierende Gewerkschaften würden sich der gesetzlichen Vorgabe gemeinsamer Verhandlungen kaum entziehen.

Hier hat auch der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz seinen Platz. Ausdruck der Verhältnismäßigkeit ist nach der Rechtsprechung des BAG das Ultima-Ratio-Prinzip: Arbeitskämpfe sind erst zulässig, wenn alle Verständigungsmöglichkeiten ausgeschöpft sind (BAG, 21.4.1971 – GS 1/68 Rn. 66). Sich nach Maßgabe einer solchen gesetzlichen Regelung auf gemeinsame Verhandlungen einzulassen, stellte eine solche Verständigungsmöglichkeit dar, die nicht ausgelassen werden dürfte.

Prof. Dr. Dr. h.c. Manfred Löwisch, RA, leitet die Forschungsstelle für Hochschularbeitsrecht an der Universität Freiburg und ist Of Counsel in der Rechtsanwaltskanzlei Krauss-Law in Lahr (Schwarzwald).

Löwisch, BB 2021, Heft 37, Umschlagteil, I