Dauerbaustelle Goodwillbilanzierung

Dauerbaustelle Goodwillbilanzierung

Abbildung 1

Eine Reform der Goodwillbilanzierung sollte Perspektiven und Performance von M&A-Deals transparent machen – dafür sind gute Governance und striktes Enforcement essenziell.

Dass der derivative Goodwill ein Vermögenswert ist, wird seit jeher bezweifelt. Dabei ist dieses “Aktivum besonderer Art” (Schmalenbach, Dynamische Bilanz, 1962, S. 144) wirtschaftlich bedeutend; bei E.ON etwa überstieg der Goodwill 2020 mit 17,8 Mrd. Euro das Eigenkapital um fast das Doppelte. Seit der Impairment-only-Ansatz 2003 die planmäßige Abschreibung ersetzte, steigen die Goodwills in den Bilanzen nach IFRS an. Selbst im Corona-Jahr 2020 machten die Goodwill-Wertminderungen im DAX 30 nur gut 2 % der Anfangsbuchwerte von 316,6 Mrd. Euro aus.

Folgerichtig ist der Goodwill seit langem Dauerthema der Deutschen Prüfstelle für Rechnungswesen (DPR). 2014 befürchtete Vizepräsidentin Thormann, die Ersteller könnten “das Impairment-only Modell” durch fragwürdige Ermessensausübung und Intransparenz “selbst ad absurdum führen und damit im Grundsatz gefährden” (BB 13/2014, Die Erste Seite). Dabei haben Ersteller und Nutzer von IFRS-Abschlüssen sich offenbar arrangiert. So saldieren Analysten den Goodwill oft pauschal mit dem Eigenkapital, und viele Unternehmen heben Größen “vor Sondereinflüssen” hervor, die um Goodwill-Impairments bereinigt sind. Ist die IFRS-Goodwillbilanzierung also irrelevant?

Weit gefehlt! Die IFRS sollen M&A-Deals auf entscheidungsnützliche Weise abbilden. Diese Transaktionen sind für die Käuferfirmen oft fundamentale Zäsuren; so hat etwa der Monsanto-Deal die Bilanz des Bayer-Konzerns dramatisch verändert. Daher ist es gut, dass der Goodwill derzeit wieder auf der Agenda steht. Der Financial Accounting Standards Bord (FASB) will zurück zur planmäßigen Abschreibung. Das wäre ein Irrweg, denn die Nutzungsdauer des Goodwill ist nicht sinnvoll schätzbar. Dagegen setzt der International Accounting Standards Board (IASB) unter seinem Chairman Barckow auf Angaben über die Akquisitionsziele und deren spätere Erreichung. Diese wären hochrelevant.

Dennoch greifen die Vorschläge zu kurz. Der Goodwill ist – s. oben Schmalenbach – zunächst nur ein aktivisches Residuum. Buchhalterisch könnte dieser Sollposten, den IFRS 3 als Vermögenswert fingiert, auch Aufwand oder Eigenkapitalminderung sein. Daher ist zunächst die Ansatzfrage zu klären: Welcher ökonomische Sachverhalt verbirgt sich hinter diesem Posten? Um aktivierungsfähig zu sein, müsste eine Ressource vorliegen, die hinreichend wahrscheinlich zukünftigen Nutzen erzeugt – und nicht etwa eine Überzahlung darstellt, z. B., weil man sich “verhoben” hat.

Da diese ökonomische Substanz von Fall zu Fall variiert, ist nicht pauschal zu sagen, ob “der Goodwill” ein Vermögenswert ist. Jeden Deal prägen eine eigene industrielle Logik und andere Faktoren. Die Abschlussadressaten erwarten zu Recht, den erwarteten zukünftigen wirtschaftlichen Nutzen am konkreten Einzelfall erläutert bekommen. Daher wäre ein Aktivum “Goodwill” auf den Betrag zu begrenzen, der nachvollziehbar anhand künftiger Wachstums- und Restrukturierungspläne, Synergien oder Realoptionen (vgl. Sellhorn, DB 2000, 885 ff.) begründbar ist. (Dieser Gedanke prägt bereits die Aktivierung von Entwicklungsausgaben nach IAS 38.)

Für die Folgebewertung sind die erwarteten Nutzenzuflüsse nachzuhalten. Fallen diese wie geplant an, ist der Goodwill in den Folgeperioden “verbrauchsorientiert” abzuschreiben. Werden sie verfehlt, ist zusätzlich (außerplanmäßig) abzuwerten; dies gilt auch bei steigenden Kapitalkosten. Nur wahrhaft “ewige” Zukunftspotenziale rechtfertigen ein dauerhaftes Stehenlassen des Goodwill.

Es wäre naiv anzunehmen, dass Unternehmen die Perspektiven und Performance ihrer M&A-Deals stets frei von Eigennutz und strategischem Ermessen berichten würden. Gegenüber dem Status quo ergäben sich dennoch zwei Vorteile: Erstens würde der Goodwill bei Erstansatz begründungsbedürftig; bisher wird seine ökonomische Substanz – anders als bei sonstigen immateriellen Werten – nicht hinterfragt. Diese Rechenschaft gegenüber Aufsichtsrat sowie Abschlussprüfer und -adressaten dürfte disziplinierend wirken. Zweitens wären die anfangs geplanten Potenziale später mit der Realität zu konfrontieren. Wer sich an seinen Prognosen künftig messen lassen muss, stellt realistischere Planungen auf und strengt sich mehr an, um diese einzuhalten.

Nun argumentiert die Praxis häufig (und nachvollziehbar), erwartete Nutzenzuflüsse seien kaum dauerhaft nachzuhalten; durch Integration und Restrukturierungen vermische sich der erworbene Goodwill mit anderen Werten. Offenbar können viele Unternehmen schon nach kurzer Zeit nicht mehr sagen, ob ein Deal die erwarteten Werte tatsächlich generiert hat. Dies wäre ein massives Problem für die Governance von M&A-Prozessen und sollte die Kapitalgeber alarmieren. Für die Folgebewertung bedeutete dies eine Totalabschreibung, denn lassen sich die Nutzenerwartungen ex post nicht nachhalten, entfallen damit auch die Ansatzvoraussetzungen für den Goodwill. Dies gilt analog für die Aktivierung von Entwicklungskosten, die ein funktionierendes F&E-Controlling voraussetzt. Eine solche Lösung könnte Unternehmen motivieren, per Synergiecontrolling ihre M&A-Aktivitäten nach innen und außen transparenter zu machen.

Die hier skizzierte holistische Reform der Goodwillbilanzierung wäre entscheidungsnützlich, da sie Ziele und Performance von Akquisitionen im Abschluss sichtbar macht und nachvollziehbar begründet. Sie setzt aber, das haben viele Bilanzskandale gezeigt, integre Manager, wachsame Aufsichtsräte sowie strikte Bilanzkontrolle durch Abschlussprüfer und Enforcement voraus. Leider haben FASB und IASB längst entschieden, lediglich die Folgebewertung des Goodwill zu überdenken. Ein Zurück des FASB hin zur planmäßigen Abschreibung würfe die kniffelige Frage nach der Behandlung der Goodwill-Altbestände auf. Sie wäre zudem Eingeständnis, dass man das Ziel der Entscheidungsnützlichkeit als unrealistisch verwirft und sich mit Einfachheit und Objektivierbarkeit begnügt. Der IASB könnte aus Konvergenzgründen folgen oder im Alleingang eine überlegene Lösung entwickeln – ein Dilemma. IASB-Chef Barckow ist um die Dauerbaustelle Goodwillbilanzierung nicht zu beneiden.

Prof. Dr. Thorsten Sellhorn lehrt und forscht an der Ludwig-Maximilians-Universität München zu Fragen der Finanz- und Nachhaltigkeitsberichterstattung. Er ist Mitglied des European Financial Reporting Advisory Group (EFRAG) Academic Panel, des International Financial Reporting Standards (IFRS) Advisory Council sowie des Arbeitskreises Externe Unternehmensrechnung der Schmalenbach-Gesellschaft und war von 2019–2021 Präsident der European Accounting Association.

Sellhorn, BB 2021, Heft 45, Umschlagteil, I