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BAG: Massenentlassung – Rechtsfolge von Fehlern im Anzeigeverfahren

BAG, Beschluss vom 1.2.2024 – 2 AS 22/23 (A); ECLI:DE:BAG:2024:010224.B.2AS22.23A.0

Der Gerichtshof der Europäischen Union wird gemäß Art. 267 AEUV um die Beantwortung der folgenden Fragen ersucht:

1. Ist Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 98/59/EG des Rates vom 20. Juli 1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen (im Folgenden MERL) dahin auszulegen, dass eine Kündigung im Rahmen einer anzeigepflichtigen Massenentlassung das Arbeitsverhältnis eines betroffenen Arbeitnehmers erst beenden kann, wenn die Entlassungssperre abgelaufen ist? Sofern die erste Frage bejaht wird:

2. Setzt das Ablaufen der Entlassungssperre nicht nur eine Massenentlassungsanzeige voraus, sondern muss diese den Vorgaben in Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 4 MERL genügen?

3. Kann der Arbeitgeber, der anzeigepflichtige Kündigungen ohne (ordnungsgemäße) Massenentlassungsanzeige ausgesprochen hat, eine solche mit der Folge nachholen, dass nach Ablaufen der Entlassungssperre die Arbeitsverhältnisse der betreffenden Arbeitnehmer durch die bereits zuvor erklärten Kündigungen beendet werden können? Sofern die erste und die zweite Frage bejaht werden:

4. Ist es mit Art. 6 MERL vereinbar, wenn das nationale Recht es der zuständigen Behörde überlässt, für den Arbeitnehmer unanfechtbar und für die Gerichte für Arbeitssachen bindend festzustellen, wann die Entlassungssperre im konkreten Fall abläuft, oder muss dem Arbeitnehmer zwingend ein gerichtliches Verfahren zur Überprüfung der Richtigkeit der behördlichen Feststellung eröffnet sein?

(Amtliche Leitsätze)

1. Der Zweite Senat des Bundesarbeitsgerichts möchte auf die Divergenzanfrage des Sechsten Senats seine bisherige Rechtsprechung aufgeben, wonach eine im Rahmen einer Massenentlassung ohne vorherige Anzeige gemäß § 17 Abs. 1 KSchG erklärte Kündigung nach § 134 BGB nichtig ist. Da der Zweite Senat nicht selbst beurteilen kann, ob Art. 4 MERL in einem solchem Fall nach der „unrettbaren“ Unwirksamkeit der Kündigung verlangt, hat er ein darauf bezogenes Vorabentscheidungsersuchen dem Gerichtshof der Europäischen Union (im Folgenden Gerichtshof) vorgelegt (Rn. 8 ff.).

2. Der Zweite Senat des Bundesarbeitsgerichts geht dabei davon aus, dass das Arbeitsverhältnis eines im Zug einer Massenentlassung gekündigten Arbeitnehmers erst aufgelöst sein kann, wenn die Entlassungssperre nach Art. 4 MERL bzw. § 18 KSchG abgelaufen ist, dies allerdings auch infolge einer nach Zugang der Kündigung nachgeholten Anzeige der Fall sein kann (Rn. 11, 14, 17 f.).

3. Der Zweite Senat des Bundesarbeitsgerichts möchte die Auffassung vertreten, dass allein die Agentur für Arbeit die Ordnungsgemäßheit einer vom Arbeitgeber erstatteten Massenentlassungsanzeige überprüft und das Ende der im konkreten Fall eingreifenden Entlassungssperre feststellt, was vom Arbeitnehmer nicht mit Erfolg angefochten werden kann und von den Gerichten für Arbeitssachen als insoweit bindend zugrunde zu legen ist. Der Zweite Senat fragt den Gerichtshof, ob dieses Verständnis mit Art. 6 MERL im Einklang steht (Rn. 12, 20 f.).

(Orientierungssätze)