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BAG: Ärztlicher Hintergrunddienst als vergütungsrechtliche Rufbereitschaft oder Bereitschaftsdienst – Rechtsfolgen einer tarifwidrigen Anordnung für die Vergütung

Das BAG hat mit Urteil vom 25. März 2021 – 6 AZR 264/20, ECLI:DE:BAG:2021:250321.U.6AZR264.20.0 – entschieden:

1. Einzige tarifliche Tatbestandsvoraussetzung und entscheidendes Unterscheidungskriterium von Bereitschaftsdienst iSd. § 7 Abs. 4 Satz 1 TV-Ärzte/TdL und Rufbereitschaft iSd. § 7 Abs. 6 Satz 1 TV-Ärzte/TdL ist, ob der Arbeitgeber nach Maßgabe der von ihm getroffenen Anordnungen den Aufenthaltsort des Arbeitnehmers bestimmt oder ob der Arbeitnehmer seinen Aufenthaltsort im Rahmen der durch den Zweck der Rufbereitschaft vorgegebenen Grenzen frei wählen kann. Im ersten Fall handelt es sich um Bereitschaftsdienst, im zweiten Fall um Rufbereitschaft.

2. Die Befugnis, diese Sonderformen der Arbeit gemäß § 7 Abs. 4 Satz 2, Abs. 6 Satz 2 TV-Ärzte/TdL nur anzuordnen, wenn erfahrungsgemäß Arbeit lediglich in einem tariflich näher umschriebenen Umfang anfällt, ist hingegen kein Tatbestandsmerkmal. Darum wandelt sich tarifwidrig angeordnete Rufbereitschaft nicht automatisch in Bereitschaftsdienst mit der Folge weitergehender Vergütungsansprüche um.

(Leitsätze)

1. Der Begriff der Rufbereitschaft wird in § 7 Abs. 6 Satz 1 TV-Ärzte/TdL vergütungsrechtlich abschließend definiert. Er setzt nur voraus, dass der Arbeitnehmer nach der Anordnung des Arbeitgebers seinen Aufenthaltsort im Rahmen der durch den Zweck der Rufbereitschaft vorgegebenen Grenzen frei wählen kann (Rn. 12 f.).

2. Beim Bereitschaftsdienst legt demgegenüber der Arbeitgeber den Aufenthaltsort des Arbeitnehmers fest. Er ist seinem Wesen nach eine Aufenthaltsbeschränkung, wobei der Arbeitnehmer verpflichtet ist, bei Bedarf sofort tätig zu werden (Rn. 13).

3. Auch bei der Rufbereitschaft muss der Arbeitnehmer in der Lage sein, die Arbeit innerhalb einer angemessenen Zeitspanne auf Abruf aufnehmen zu können. Die aus diesem Zweck der Rufbereitschaft folgenden mittelbaren Einschränkungen des Aufenthaltsortes des Arbeitnehmers sind ein Wesensmerkmal dieses Dienstes und stehen dem Vorliegen von Rufbereitschaft nicht entgegen (Rn. 14).

4. Für die Abgrenzung von Rufbereitschaft und Bereitschaftsdienst ist allein der Umfang der aufenthaltsbeschränkenden Anordnungen des Arbeitgebers entscheidend. Diese Anordnungen können auch konkludent erfolgen, indem der Arbeitgeber die Vorgaben zum Aufenthaltsort durch genaue Vorgaben zum Faktor Zeit für die Arbeitsaufnahme ersetzt und dabei die Zeitspanne bis zur Arbeitsaufnahme so kurz bemisst, dass sie – was jeweils im Einzelfall zu entscheiden ist – einer Aufenthaltsbeschränkung gleichkommt. Dann liegt Bereitschaftsdienst vor (Rn. 15).

5. Begibt sich der Arbeitnehmer nach Abruf nicht zum Arbeitsort, sondern erbringt seine Arbeitsleistung telefonisch sofort bei Abruf an seinem Aufenthaltsort, steht dies dem Vorliegen von Rufbereitschaft nicht entgegen (Rn. 16).

6. Rufbereitschaft darf der Arbeitgeber nach § 7 Abs. 6 Satz 2 TV-Ärzte/TdL nur anordnen, wenn erfahrungsgemäß lediglich im Ausnahmefall Arbeit anfällt. Das ist der Fall, wenn Zeiten ohne Arbeitsanfall die Regel sind. Dabei sind im Rahmen einer wertenden Gesamtschau neben dem Arbeitsleistungsanteil auch der Anteil der Rufbereitschaften mit Inanspruchnahmen im Verhältnis zur Gesamtzahl der Rufbereitschaften sowie die Häufigkeit und die Dauer der einzelnen Inanspruchnahmen während der jeweiligen Rufbereitschaften zu berücksichtigen (Rn. 23).

7. Beruft sich der Arbeitgeber auf seine Befugnis, Rufbereitschaft anzuordnen, kann er zur Darlegung der Voraussetzungen des § 7 Abs. 6 Satz 2 TV-Ärzte/TdL durch Arbeitsaufzeichnungen gewonnene Erfahrungswerte vortragen. Stehen ihm solche nicht zur Verfügung, hat er eine Prognose abzugeben. Sowohl Erfahrungswerte als auch Prognose müssen sich auf einen repräsentativen Zeitraum beziehen (Rn. 24).

8. Die Befugnis, nach § 7 Abs. 4 Satz 2, § 7 Abs. 6 Satz 2 TV-Ärzte/TdL Bereitschaftsdienst bzw. Rufbereitschaft anzuordnen, ist kein Tatbestandsmerkmal dieser Sonderformen der Arbeit. Ein bestimmter Arbeitsleistungsanteil ist ihnen nicht begriffsimmanent. Ordnet der Arbeitgeber tarifwidrig Rufbereitschaft an, wandelt sich diese daher nicht automatisch in Bereitschaftsdienst um (Rn. 28 ff.).

9. Die Tarifvertragsparteien haben bewusst keine Vergütungsregelung für den Fall tarifwidrig angeordneter Rufbereitschaft geschaffen. Diese bewusste Tariflücke kann von den Arbeitsgerichten nicht geschlossen werden (Rn. 30).

(Orientierungssätze)