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EuGH: Steuerbemessungsgrundlage – Verminderung der Steuerbemessungsgrundlage – Vollständige oder teilweise Nichtbezahlung des Preises nach Bewirkung des Umsatzes – Abweichungsmöglichkeit der Mitgliedstaaten gemäß Art. 90 Abs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie

GAin Kokott, Schlussanträge vom 7.9.2023 – C-314/22

1. Art. 90 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem steht einer angemessenen Ausschlussfrist nicht entgegen, wenn diese erst mit oder nach dem Zeitpunkt zu laufen beginnt, zu dem der Steuerpflichtige bei einer vollständigen oder teilweisen Nichtbezahlung des Preises die Steuerbemessungsgrundlage vermindern konnte. Eine Ausschlussfrist ab Leistungserbringung oder Erstellung der Rechnung ist mit Art. 90 dieser Richtlinie jedoch nicht vereinbar. Ohne eine gesetzliche Konkretisierung kann eine solche Ausschlussfrist erst ab dem Zeitpunkt zu laufen beginnen, zu dem die Forderung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit endgültig uneinbringlich geworden ist.

2. Eine Pflicht zur Berichtigung einer richtigen Rechnung als Voraussetzung für eine Verminderung der Steuerbemessungsgrundlage im Fall einer Nichtbezahlung des Preises verstößt gegen die Richtlinie 2006/112.

3. Für den Zeitpunkt, ab dem ein Steuerpflichtiger im Fall einer vollständigen oder teilweisen Nichtbezahlung nach Art. 90 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 eine Verminderung der Steuerbemessungsgrundlage zum ersten Mal vornehmen kann, kommt es auf die Gegebenheiten im jeweiligen Mitgliedstaat und die Umstände des Einzelfalls an, welche das vorlegende Gericht zu würdigen hat. Dabei verbietet der Neutralitätsgrundsatz eine unverhältnismäßig lange Vorfinanzierung der Steuer, sofern der Steuerpflichtige (Leistende) die zumutbaren Schritte unternommen hat, um seiner Funktion als Steuereinnehmer für Rechnung des Staates nachzukommen. Letzteres setzt grundsätzlich eine erfolglose Zahlungsaufforderung (Mahnung) des Leistungsempfängers voraus. Nicht notwendig ist aber ein erfolgloser Gerichtsprozess oder die Eröffnung oder der Abschluss eines Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Leistungsempfängers.

4. Art. 90 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 ist unmittelbar anwendbar, wenn der Mitgliedstaat von der Abweichungsmöglichkeit von Art. 90 Abs. 2 dieser Richtlinie derart verfehlt Gebrauch macht, dass er nicht die Unsicherheit einer endgültigen Nichtbezahlung berücksichtigt, sondern die Verminderung der Bemessungsgrundlage in Gänze ausschließt.

5. Eine gesetzliche Verpflichtung, wonach der Leistende den Leistungsempfänger im Fall von dessen (ganz oder teilweisen) Nichtbezahlung des Preises auf die Änderung der Bemessungsgrundlage hinzuweisen hat, um diesen an eine eventuell noch durchzuführende Änderung des Vorsteuerabzugs zu erinnern, ist mangels Eignung unverhältnismäßig. Daher können sie die Mitgliedstaaten nicht im Rahmen von Art. 90 der Mehrwertsteuerrichtlinie vorsehen.

6. Eine Verzinsung des Erstattungsanspruchs aufgrund einer Verringerung der Steuerbemessungsgrundlage kommt frühestens ab dem Zeitpunkt in Betracht, zu dem der Leistende davon ausgehen kann, dass eine Bezahlung nicht mehr erfolgen wird und er dies im Rahmen seiner Steuerveranlagung erklärt hat.

Volltext BB-Online BBL2023-2134-2