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EuGH: Sorgfaltspflicht des Steuerpflichtigen – Art. 47 Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Recht auf ein faires Verfahren

EuGH, Urteil vom 1.12.2022 – C-512/21

1. Die Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem ist dahin auszulegen, dass

– sie, wenn die Steuerbehörde einem Steuerpflichtigen das Recht auf Vorsteuerabzug mit der Begründung zu versagen beabsichtigt, dass der Steuerpflichtige an einer Mehrwertsteuerhinterziehung in Form eines Mehrwertsteuerkarussells beteiligt gewesen sei, dem entgegensteht, dass sich die Steuerbehörde auf die Feststellung beschränkt, dass dieser Umsatz Teil von Karussellfakturierungen sei,

– es der Steuerbehörde obliegt, zum einen die Tatbestandsmerkmale der Steuerhinterziehung genau zu bestimmen und die betrügerischen Handlungen nachzuweisen und zum anderen zu belegen, dass der Steuerpflichtige aktiv an dieser Steuerhinterziehung beteiligt war oder dass er wusste oder hätte wissen müssen, dass der zur Begründung des Abzugsrechts geltend gemachte Umsatz in diese Hinterziehung einbezogen war, was jedoch nicht notwendigerweise bedeutet, dass alle an der Steuerhinterziehung beteiligten Akteure sowie deren jeweilige Handlungen anzugeben wären.

2. Die Richtlinie 2006/112 ist dahin auszulegen, dass

– sie, wenn die Steuerbehörde eine aktive Beteiligung des Steuerpflichtigen an einer Mehrwertsteuerhinterziehung anführt, um das Recht auf Vorsteuerabzug zu versagen, dem nicht entgegensteht, dass sich die Steuerbehörde dabei, ergänzend oder hilfsweise, auf Beweise stützt, die nicht eine solche Beteiligung, sondern den Umstand belegen, dass der Steuerpflichtige bei Aufbietung aller gebotenen Sorgfalt hätte wissen können, dass der betreffende Umsatz in eine solche Hinterziehung einbezogen war,

– der bloße Umstand, dass sich die Mitglieder der Lieferkette, zu der dieser Umsatz gehört, kannten, für die Feststellung der Beteiligung des Steuerpflichtigen an der Steuerhinterziehung nicht ausreicht.

3. Die Richtlinie 2006/112 in Verbindung mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist dahin auszulegen, dass

– sie bei Vorliegen von Anhaltspunkten für Unregelmäßigkeiten oder eine Steuerhinterziehung dem nicht entgegensteht, dass vom Steuerpflichtigen verlangt wird, sich mit erhöhter Sorgfalt zu vergewissern, dass der von ihm getätigte Umsatz nicht zu seiner Beteiligung an einer Steuerhinterziehung führt,

– von ihm jedoch nicht verlangt werden kann, dass er komplexe und umfassende Überprüfungen durchführt, wie sie von der Steuerverwaltung vorgenommen werden können, und

–  es Sache des nationalen Gerichts ist, zu beurteilen, ob der Steuerpflichtige in Anbetracht aller Umstände des Einzelfalls hinreichend sorgfältig gehandelt und die Maßnahmen ergriffen hat, die von ihm unter diesen Umständen vernünftigerweise verlangt werden können.

4. Die Richtlinie 2006/112

ist dahin auszulegen, dass

– sie dem entgegensteht, dass die Steuerbehörde einem Steuerpflichtigen allein deswegen das Recht auf Vorsteuerabzug versagt, weil er Verpflichtungen aus nationalen Vorschriften oder aus dem Unionsrecht über die Sicherheit der Lebensmittelkette verletzt hat;

–  die Nichteinhaltung dieser Verpflichtungen allerdings ein Gesichtspunkt unter anderen sein kann, den die Steuerbehörde zur Feststellung sowohl einer Mehrwertsteuerhinterziehung als auch der Beteiligung des Steuerpflichtigen an dieser Steuerhinterziehung heranziehen kann, selbst wenn es keine vorherige Entscheidung der für die Feststellung eines solchen Verstoßes zuständigen nationalen Verwaltungsbehörde gibt.

5. Das in Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankerte Recht auf ein faires Verfahren ist dahin auszulegen, dass es dem nicht entgegensteht, dass das mit dem Rechtsbehelf gegen die Entscheidung der Steuerbehörde befasste Gericht als Beweis für das Vorliegen einer Mehrwertsteuerhinterziehung oder die Beteiligung des Steuerpflichtigen an dieser Steuerhinterziehung eine Verletzung der genannten Verpflichtungen berücksichtigt, wenn der Beweis vor diesem Gericht bestritten und kontradiktorisch erörtert werden kann.

6. Die Richtlinie 2006/112 und der Grundsatz der Steuerneutralität sind dahin auszulegen, dass sie einer Steuerpraxis nicht entgegenstehen, bei der, um einem Steuerpflichtigen das Recht auf Vorsteuerabzug mit der Begründung zu versagen, dass er an einer Mehrwertsteuerhinterziehung beteiligt gewesen sei, unabhängig von den einschlägigen nationalen Vorschriften über die Beauftragung und den Bestimmungen des im vorliegenden Fall geschlossenen Auftragsvertrags darauf abgestellt wird, dass der gesetzliche Vertreter des Beauftragten des Steuerpflichtigen Kenntnis von den die Mehrwertsteuerhinterziehung begründenden Umständen hatte.

(Tenor)

Volltext BB-Online BBL2022-2902-1