Tarifanpassung bei der Einkommensteuer – auch in Corona-Zeiten dringlich
Der Einkommensteuertarif bedarf der Revision, mangelt es dafür am politischen Willen, ist zumindest der Grundfreibetrag realitätsnah anzuheben.
Der Bundestagswahlkampf steht vor der Tür. Einige im Deutschen Bundestag vertretene Parteien haben inzwischen steuerpolitische Programme vorgestellt. Hinsichtlich der Tariffindung bei der Einkommensteuer, die sämtliche steuerpflichtige Bürger und Bürgerinnen tangiert, sind die Vorschläge dadurch gekennzeichnet, dass die Parteien einen realitätsnahen Grundfreibetrag vorschlagen. Damit wird den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts Rechnung getragen. Allerdings müsste die tatsächliche Preisentwicklung ab 2022 berücksichtigt werden.
Das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) hat am 4.4.2021 eine Vergleichsstudie zu den Wahlprogrammen verschiedener Parteien im Bereich “Einkommensteuer” vorgelegt. Analysiert wurden die Wahlprogramme zur Einkommensteuer von SPD, GRÜNE und DIE LINKE. Alle drei Programme verkörpern die Zielrichtung: “Unten entlasten, oben belasten!”
Außer der überfälligen Anhebung des Grundfreibetrags auf eine realitätsnahe Höhe, sollen die Architekturen der jeweiligen Tarifgebilde verändert werden. Bekanntlich soll der Grundfreibetrag nach § 32a Abs. 1 EStG den steuerlichen Zugriff auf das Existenzminimum verhindern. Es stellt sich die Frage, ob für diese Zielerreichung eine bundeseinheitliche Regelung geeignet ist. Realitätsnah wäre eine regionale Differenzierung, die den notwendigen Bedarf an existenznotwendigen Gütern abbilden kann. Betrachtet man allein den Wohnbedarf, erkennt man, dass ein bundesweiter Grundfreibetrag dem verfassungsrechtlichen Gebot nicht gerecht werden kann (vgl. auch Hey, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, 24. Aufl. 2021, 8.82).
Die Tarifstruktur oberhalb der Nullzone (Grundfreibetrag) wird von politischen Erwägungen getragen. Die Steuersatzbildung selbst ist rechtlich nicht überprüfbar. Lediglich Tarifsprünge sind vom BVerfG als nicht verfassungskonform eingestuft worden.
Alle drei vorgelegten Wahlprogramme treten für einen höheren Grundfreibetrag ab 2022 ein. DIE LINKE und die GRÜNEN haben einen Zielwert von 14 400 Euro konkretisiert. Damit würde eine überfällige Anpassung des Grundfreibetrags in weiten Teilen Deutschlands realisiert, da der derzeitige Grundfreibetrag insbesondere in Ballungsräumen und größeren Städten den notwendigen Wohnbedarf nicht ausreichend berücksichtigt (Dziadkowski, DStR 2019, 2663 ff.; ders., ifo-Schnelldienst 1/2020, 30 ff.). Zudem wirkt er sich ebenfalls bei der Tarifbestimmung als sog. Nullzone aus (Bomsdorf, ifo-Schnelldienst, 1/2020, 34 ff.). Da die letzte umfassende Tarifdiskussion vor 27 Jahren stattfand und im Tarif 1996 gipfelte (Dziadkowski, BB 1995, 697 ff.), ist eine gründliche Tariferneuerung notwendig.
Gleichzeitig mit der Anhebung des Grundfreibetrags sollen nach den Wahlprogrammen die Spitzensteuersätze erhöht werden, jedoch erst ab einer späteren Grenze wirksam werden (z. B. DIE LINKE von 42 auf 53 %, aber erst ab 70 000 Euro statt bisher 58 000 Euro). Außer dem Reichensteuersatz I in Höhe von nunmehr 60 % soll noch ein Reichensteuersatz II von 75 % ab 1 Mio. Euro eingeführt werden.
Das IW hat einige Werte exemplarisch ermittelt, allerdings als Berechnungsgrundlage nicht das zu versteuernde Einkommen, sondern das “Bruttojahresgehalt” gewählt. Z. B. ergeben sich für Singles folgende Veränderungen:
Alleinstehende mit einem Einkommen bis zur Höhe von 78 000 Euro würden – wenn auch nur marginal auf Nominalbasis – entlastet. Steuerpflichtige mit höheren Einkommen würden stärker belastet. Eine Mehrbelastung würde nach den Ermittlungen des IW lediglich bei 6,32 % der Steuerzahler eintreten. Zu bedenken ist jedoch, dass die Preise für Güter des täglichen Bedarfs (Lebensmittel, Mieten) weiterhin stark steigen werden.
Die für zahlreiche Steuerzahler geplanten Wohltaten dürften allerdings durch die zu erwartenden Steuererhöhungen bei anderen Steuern und Abgaben wieder zumindest neutralisiert werden.
Bereits heute zeichnen sich schon Mehrbelastungen durch die CO2- Abgabe ab. Hinzu kommen noch die – allerdings regional sehr unterschiedlichen – Zuschläge im Bereich “Wohnbedarf” durch die zu erwartenden Grundsteueranhebungen (Kußmaul/Schmeer, StB 2021, 121 ff.). Zugleich steigt die Gefahr heimlicher und unheimlicher Enteignungsmaßnahmen bei Sparern und Steuerzahlern (z. B. Negativzinsen). Nicht ausgeschlossen werden kann eine Revitalisierung der Vermögensteuer oder eine einmalige Vermögensabgabe wie nach dem ZWEITEN WELTKRIEG (Basis damals 21.6.1948). Hat doch der Finanzausschuss des Deutschen Bundestages anlässlich eines Hearings diese Fragen diskutiert (Der Spiegel 18/2021, 60 ff.).
Die öffentlichen Haushalte werden insbesondere durch die Langzeitwirkungen von CORONA einen enormen Finanzbedarf decken müssen. Auch ohne diese Pandemie war Deutschland u. a. bei der Digitalisierung und Verwaltungsmodernisierung (Gesundheitsämter, Finanzämter usw.) ins Hintertreffen geraten. Zusätzliche Probleme sind durch den großen Fachkräftemangel (so in der Gerichtsbarkeit und Politik) entstanden. Einen Spitzenplatz erreicht Deutschland allerdings wie schon in den letzten Jahren innerhalb der OECD auf dem Feld “Steuerbelastung der Bürger” (Schubert, Höchststeuerland, FAZ vom 30.4.2021, 21).
Wünschenswert aus Sicht des Durchschnittsverbrauchers im Sinne der EuGH-Rechtsprechung wäre zumindest eine transparente Tarifgestaltung, die mit Hilfe der Grundrechenarten nachvollzogen werden könnte.
Prof. Dr. Dieter Dziadkowski war Professor für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Betriebswirtschaftliche Steuerlehre und Wirtschaftsprüfung sowie u. a. Vorsitzender der Vereinigung zur wissenschaftlichen Pflege des Umsatzsteuerrechts e. V., Regensburg/München, und Mitglied der Ursprungslandkommission und der Einkommensteuer-(Bareis-)Kommission.
Dziadkowski, BB 2021, Heft 26, Umschlagteil, I