BAG: Tarifauslegung – Bezugnahme auf mehrere Tarifwerke – ergänzende Vertragsauslegung

Das BAG hat mit Urteil vom 28.4.2021 – 4 AZR 230/20 – entschieden:

1. Macht eine Arbeitnehmerin ein einheitliches Klagebegehren auf der Grundlage mehrerer prozessualer Ansprüche (Streitgegenstände) geltend, muss sie – ggf. nach entsprechendem richterlichen Hinweis gem. § 139 ZPO – zur Wahrung der Bestimmtheitsanforderungen des § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO die Rangfolge (Haupt- und Hilfsbegehren) angeben, in der das Gericht die Prüfung vorzunehmen hat (Rn. 18).

2. Vereinbaren Tarifvertragsparteien in einem Manteltarifvertrag lediglich im Grundsatz Ansprüche der Arbeitnehmer auf bestimmte Leistungen und wird die inhaltliche Ausgestaltung den Regelungen anderer Tarifverträge vorbehalten, ohne die entsprechenden Tarifvertragsparteien zu bezeichnen, sind damit grundsätzlich die Tarifverträge derselben Tarifvertragsparteien gemeint (Rn. 33 ff.).

3. Die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zu sog. Verweisungs- oder Anerkennungstarifverträgen, nach der im Geltungsbereich eines ungekündigten Tarifvertrags eine in Bezug genommene Tarifnorm eines anderen Tarifvertrags, an dem jedenfalls eine andere Tarifvertragspartei beteiligt ist, auch dann unmittelbar und zwingend gilt, wenn der in Bezug genommene Tarifvertrag gekündigt ist und nur noch nachwirkt, ist nicht auf den Fall übertragbar, dass Tarifvertragsparteien die Ausgestaltung dem Grunde nach im Manteltarifvertrag geregelter Ansprüche – insbesondere hinsichtlich Anspruchsvoraussetzungen und Anspruchshöhe – speziellen Tarifverträgen vorbehalten (Rn. 41 ff.).

4. Die Wirksamkeit einer arbeitsvertraglichen Bezugnahmeklausel setzt nach allgemeinen vertragsrechtlichen Grundsätzen voraus, dass die in Bezug genommenen Tarifnormen, die die Rechte und Pflichten im Arbeitsverhältnis regeln, eindeutig bestimmbar sind. Ist dies im Fall einer Verweisung auf inhaltlich unterschiedliche Tarifwerke verschiedener Gewerkschaften auch durch Auslegung nicht möglich, ist die Klausel unwirksam (Rn. 56).

5. Eine dynamische Bezugnahmeklausel ist allerdings nicht schon unwirksam, wenn die in Bezug genommenen Tarifnormen zwar im Zeitpunkt des Vertragsschlusses eindeutig bestimmbar sind, aber nicht absehbar ist, welchen zukünftigen Inhalt die in Bezug genommenen Tarifregelungen haben. Maßgebend ist der Zeitpunkt der Anwendung der Klausel (Rn. 56).

6. Für den Fall der Bezugnahme auf inhaltlich unterschiedliche Tarifwerke verschiedener Gewerkschaften bedarf es einer vertraglichen Kollisionsregelung, die sich auch im Wege der Auslegung ergeben kann. Eine in Ermangelung einer Kollisionsregelung entstandene Regelungslücke kann durch ergänzende Vertragsauslegung geschlossen werden. Kommen mehrere Möglichkeiten der Lückenschließung in Betracht, ist diejenige zu wählen, die die Vertragsparteien bei angemessener Abwägung ihrer Interessen nach Treu und Glauben redlicherweise selbst ausgewählt hätten. Sind in diesem Fall keine hinreichend sicheren Anhaltspunkte für den hypothetischen Parteiwillen ersichtlich, ist eine ergänzende Vertragsauslegung durch das Gericht ausgeschlossen (Rn. 69 ff.).

7. War das Bezugnahmeobjekt einer arbeitsvertraglichen Bezugnahmeklausel zunächst bestimmbar, entfällt die Bestimmbarkeit aber zu einem späteren Zeitpunkt, ohne dass die Bezugnahmeklausel – ggf. nach (ergänzender) Vertragsauslegung – eine Kollisionsregelung enthielte, folgt daraus regelmäßig nicht die Unwirksamkeit der gesamten Verweisungsklausel, sondern lediglich der Entfall ihrer Dynamik. Anwendbar bleiben die zuletzt übereinstimmenden Tarifwerke (Rn. 82 ff.).

(Orientierungssätze)