– geplante Betriebsänderung iSv. § 125 Abs. 1 S. 1 InsO – Vermutungswirkung des § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InsO – Darlegungs- und Beweislast – wesentliche Änderung der Sachlage gem. § 125 Abs. 1 Satz 2 InsO
BAG, Urteil vom 17.8.2023 – 6 AZR 56/23
1. Steht fest, dass das Arbeitsverhältnis durch eine Kündigung zu einem bestimmten Zeitpunkt aufgelöst worden ist, fehlt einer Kündigungsschutzklage gegen eine anderweitige Kündigung mit identischem Beendigungstermin das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis (Rn. 16).
2. Der sich auf die Vermutungswirkung des § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InsO berufende Insolvenzverwalter hat im Bestreitensfall darzulegen und zu beweisen, dass bei Zugang der Kündigung ein rechtswirksamer Interessenausgleich mit Namensliste bestanden hat und eine Betriebsänderung iSv. § 111 BetrVG geplant war (Rn. 20).
3. Eine die Vermutungswirkung des § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InsO auslösende Betriebsänderung ist iSv. § 125 Abs. 1 Satz 1 InsO geplant, wenn der Insolvenzverwalter ernstlich zu ihrer Durchführung entschlossen ist. Ein bloß prophylaktisches Vorgehen des Insolvenzverwalters im Sinne eines Vorrats- oder „Vielleicht“-Beschlusses kann eine solche Vermutung nicht bewirken (Rn. 26).
4. Der Betriebsrat muss im Stadium der Interessenausgleichsverhandlungen die Möglichkeit haben, gegen die vom Insolvenzverwalter geplante Betriebsänderung zu intervenieren. Zu diesem Zeitpunkt dürfen deshalb noch keine unumkehrbaren Maßnahmen zu ihrer Durchführung getroffen worden sein (Rn. 27).
5. Zur Wahrung der Vermutungswirkung des § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InsO müssen die Voraussetzungen der geplanten Betriebsänderung auch noch im Zeitpunkt des Interessenausgleichsabschlusses vorliegen (Rn. 28).
6. Im Hinblick auf eine behördliche Zustimmung ausgesprochene Folgekündigungen werden von der Vermutungswirkung des § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InsO erfasst (Rn. 32).
7. Beruft sich der Arbeitnehmer auf eine wesentliche Änderung der Sachlage iSd. § 125 Abs. 1 Satz 2 InsO, muss er darlegen und gegebenenfalls beweisen, dass eine solche Wende zwischen dem Interessenausgleichsabschluss und dem Zugang der Kündigung eingetreten ist und die Betriebsparteien im Wissen um diese spätere Änderung den Interessenausgleich nicht (mit demselben) Inhalt vereinbart hätten (Rn. 34).
(Orientierungssäze)
Eine iSv. § 125 Abs. 1 Satz 1 InsO „geplante“ Betriebsänderung erfordert wegen der Rechtsgrundverweisung auf § 111 BetrVG, dass der Betriebsrat in den Verhandlungen über den Interessenausgleich noch Einfluss auf die Willensbildung des Insolvenzverwalters nehmen kann und die Voraussetzungen der Betriebsänderung auch noch bei Abschluss des Interessenausgleichs vorliegen. Der Verwalter muss darum zwar den ernstlichen Entschluss zu ihrer Durchführung gefasst haben. Im Zeitpunkt des Abschlusses des Interessenausgleichs darf sich aber die Betriebsänderung noch nicht in der unumkehrbaren Durchsetzung befinden.
(Amtlicher Leitsatz)