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EuGH: Ne bis in idem-Grundsatz bei Verhängung einer Verwaltungsgeldbuße gegen eine Gesellschaft wegen unlauterer Geschäftspraktiken

EuGH, Urteil vom 14.9.2023 – C-27/22

1. Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass eine in den nationalen Rechtsvorschriften vorgesehene Verwaltungsgeldbuße, die von der für den Verbraucherschutz zuständigen nationalen Behörde gegen eine Gesellschaft wegen unlauterer Geschäftspraktiken verhängt wird, eine strafrechtliche Sanktion im Sinne dieser Bestimmung darstellt, obwohl sie in den nationalen Rechtsvorschriften als Verwaltungssanktion eingestuft wird, wenn sie eine repressive Zielsetzung verfolgt und einen hohen Schweregrad aufweist.

2. Der in Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankerte Grundsatz ne bis in idem ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die es erlaubt, eine gegen eine juristische Person wegen unlauterer Geschäftspraktiken verhängte Geldbuße strafrechtlicher Natur aufrechtzuerhalten, wenn diese Person wegen derselben Tat in einem anderen Mitgliedstaat strafrechtlich verurteilt worden ist, auch wenn diese Verurteilung nach dem Erlass der Entscheidung, mit der die Geldbuße verhängt wurde, erfolgt ist, aber rechtskräftig geworden ist, bevor über den gerichtlichen Rechtsbehelf gegen diese Entscheidung rechtskräftig geurteilt worden ist.

3. Art. 52 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass er eine Einschränkung der Anwendung des in Art. 50 der Charta verankerten Grundsatzes ne bis in idem zulässt, um eine Kumulierung von Verfahren oder Sanktionen wegen derselben Tat zu ermöglichen, sofern die in Art. 52 Abs. 1 der Charta vorgesehenen Voraussetzungen, wie sie von der Rechtsprechung näher bestimmt wurden, erfüllt sind, nämlich erstens, dass diese Kumulierung keine übermäßige Belastung für die betreffende Person darstellt, zweitens, dass es klare und präzise Regeln gibt, anhand deren sich vorhersehen lässt, bei welchen Handlungen und Unterlassungen eine Kumulierung in Frage kommt, und drittens, dass die betreffenden Verfahren in hinreichend koordinierter Weise und in einem engen zeitlichen Zusammenhang geführt wurden.

(Amtliche Leitsätze)