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BAG: Erfolgloser Bewerber – Diskriminierung wegen der Schwerbehinderung

– Anspruch auf Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG – Vermutung der Benachteiligung wegen der Schwerbehinderung iSv. § 22 AGG – Anforderungen an die Darlegungslast der klagenden Partei – Vortrag „ins Blaue hinein“ – Widerlegung der Kausalitätsvermutung – Höhe der Entschädigung

BAG, Urteil vom 14.6.2023 – 8 AZR 136/22

1. Der Sachvortrag einer Partei ist bereits dann schlüssig, wenn sie Tatsachen vorträgt, die in Verbindung mit einem Rechtssatz geeignet sind, das geltend gemachte Recht als in ihrer Person entstanden erscheinen zu lassen. Nähere Einzelheiten muss die Partei nur vortragen, wenn diese für die Rechtsfolgen von Bedeutung sind (Rn. 28).

2. Hat eine Partei mangels entsprechender Erkenntnisquellen oder Sachkunde kein zuverlässiges Wissen über Tatsachen, und kann sie ein solches Wissen auch nicht zumutbar erlangen, kann sie dennoch die entsprechenden Tatsachen behaupten, die sie nach Lage der Dinge für wahrscheinlich oder jedenfalls für möglich hält, dh. die sie nur vermutet. Unbeachtlich ist ihr Sachvortrag erst, wenn die Partei ohne greifbare Anhaltspunkte willkürlich Behauptungen „aufs Geratewohl“ oder „ins Blaue hinein“ aufstellt. Jedoch ist bei der Annahme von Willkür in diesem Sinn Zurückhaltung geboten. In der Regel wird Willkür nur bei Fehlen jeglicher tatsächlicher Anhaltspunkte angenommen werden können (Rn. 29).

3. Nach ständiger Rechtsprechung des Senats begründet der Verstoß des Arbeitgebers gegen Vorschriften, die Verfahrens- und/oder Förderpflichten zugunsten schwerbehinderter Menschen enthalten, regelmäßig die Vermutung iSv. § 22 AGG, dass die unmittelbare Benachteiligung iSv. § 3 Abs. 1 AGG, die der erfolglose Bewerber durch die Nichtberücksichtigung im Bewerbungsverfahren erfahren hat, wegen der Schwerbehinderung erfolgte (Rn. 22).

4. Ein erfolgloser schwerbehinderter Bewerber genügt in einem Schadensersatz- bzw. Entschädigungsprozess nach § 15 Abs. 1 und/oder Abs. 2 AGG seiner Darlegungslast für die Kausalität der Schwerbehinderung für die unmittelbare Benachteiligung iSv. § 3 Abs. 1 AGG regelmäßig dadurch, dass er eine Verletzung des Arbeitgebers gegen Bestimmungen rügt, die Verfahrens- und/oder Förderpflichten zugunsten schwerbehinderter Menschen enthalten. Er muss für die von ihm nur vermutete Tatsache eines solchen Verstoßes des Arbeitgebers, zB dass der Betriebsrat nicht den Vorgaben des § 164 Abs. 1 Satz 4 SGB IX entsprechend über die Bewerbung unterrichtet wurde, regelmäßig keine konkreten Anhaltspunkte darlegen, da es sich um tatsächliche Verhältnisse in der Sphäre des Prozessgegners handelt, in die ein Bewerber für ein Beschäftigungsverhältnis als Außenstehender regelmäßig keinen Einblick hat und sich auch zumutbar nicht verschaffen kann. Dies entspricht der unionsrechtlichen Vorgabe, wonach die Ausübung der durch die Richtlinie 2000/78/EG verliehenen Rechte weder praktisch unmöglich gemacht, noch übermäßig erschwert werden darf, und wonach im Rahmen des Nachweises von Tatsachen, die das Vorliegen einer unmittelbaren oder mittelbaren Diskriminierung vermuten lassen, von den nationalen Gerichten sicherzustellen ist, dass eine Verweigerung von Informationen durch die beklagte Partei nicht die Verwirklichung der ua. mit der Richtlinie 2000/78/EG verfolgten Ziele zu beeinträchtigen droht (Rn. 32 und 37).

5. Der Arbeitgeber kann die Kausalitätsvermutung des § 22 AGG ua. dadurch widerlegen, dass er darlegt und im Bestreitensfall beweist, dass der erfolglose Bewerber eine formale Qualifikation nicht aufweist oder eine formale Anforderung nicht erfüllt, die unverzichtbare Voraussetzung für die Ausübung der Tätigkeit bzw. des Berufs an sich ist (Rn. 45).

6. Der Umstand, dass es sich um einen privaten Arbeitgeber handelt, rechtfertigt es nicht, eine höhere Entschädigung als angemessen iSv. § 15 Abs. 2 AGG anzusehen als bei einem öffentlichen Arbeitgeber (Rn. 59).

(Orientierungssätze)

Ein erfolgloser schwerbehinderter Bewerber genügt in einem Schadensersatz- bzw. Entschädigungsprozess nach § 15 Abs. 1 und/oder Abs. 2 AGG seiner Darlegungslast für die Kausalität der Schwerbehinderung für die Benachteiligung regelmäßig dadurch, dass er eine Verletzung des Arbeitgebers gegen Bestimmungen rügt, die Verfahrens- und/oder Förderpflichten zugunsten schwerbehinderter Menschen enthalten. Er muss für die von ihm nur vermutete Tatsache eines Verstoßes des Arbeitgebers gegen die og. Vorschriften, zB dass der Betriebsrat nicht den Vorgaben des § 164 Abs. 1 Satz 4 SGB IX entsprechend über die Bewerbung unterrichtet wurde, vor dem Hintergrund, dass es sich um tatsächliche Verhältnisse in der Sphäre des Prozessgegners handelt, in die ein Bewerber für ein Beschäftigungsverhältnis als Außenstehender regelmäßig keinen Einblick hat und sich auch zumutbar nicht verschaffen kann, regelmäßig keine konkreten Anhaltspunkte darlegen.

(Amtliche Leitsätze)