OLG Hamm, Urteil vom 15.8.2023 – 7 U 19/23
1. Der Verantwortliche für die Datenverarbeitung im Sinne des Art. 4 Nr. 7 DSGVO muss generell – und damit auch im Zivilprozess – nach dem in Art. 5 Abs. 2 DSGVO verankerten Grundsatz der Rechenschaftspflicht nachweisen können, dass er die in Art. 5 Abs. 1 DSGVO festgelegten Grundsätze für die Verarbeitung personenbezogener Daten eingehalten hat (im Anschluss an EuGH, 4.7.2023 – C-252/21, GRUR 2023, 1131 Rn. 95, 152, 154 [BB 2023, 1808]).
2. Die automatisierte Ausführung eines Datenabrufs über eine Such- oder Kontaktimportfunktion durch einen Dritten in einem sozialen Netzwerk ist eine Datenverarbeitung des Netzwerkbetreibers als Verantwortlichem in Form der Offenlegung durch Übermittlung im Sinne des Art. 4 Nr. 2 DSGVO (in Anwendung von EuGH, 22.6.2023 – C-579/21, BeckRS 2023, 14515 Rn. 46 ff.; EuGH, 4.5.2023 – C-487/21, NJW 2023, 2253 Rn. 27 [BB 2023, 1089])
3. Die Verarbeitung auch der Mobilfunktelefonnummer eines Nutzers im Rahmen einer Such- und Kontaktimportfunktion durch das soziale Netzwerk Facebook kann nicht auf den Rechtfertigungsgrund der Vertragszweckerfüllung im Sinne von Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 lit. b DSGVO gestützt werden (in Anwendung von EuGH, 4.7.2023 – C-252/21, GRUR-RS 2023, 15772 Rn. 98 ff. [BB 2023, 1808]).
4. Für die Verarbeitung der Mobilfunktelefonnummer eines Nutzers durch das soziale Netzwerk Facebook im Rahmen einer Such- und Kontaktimportfunktion ist eine Einwilligung im Sinne von Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 lit. a, Art. 7 DSGVO erforderlich, die – wie hier – bei unzulässiger Voreinstellung („opt-out“) und unzureichender sowie intransparenter Information über die konkrete Funktionsweise der Such- und Kontaktimportfunktion nicht vorliegen kann (in Anwendung von EuGH, 4.7.2023 – C-252/21, GRUR-RS 2023, 15772 Rn. 91 f. [BB 2023, 1808] und EuGH, 11.11.2020 – C-61/19, NJW 2021, 841 Rn. 35 f.).
5. Der für die Datenverarbeitung Verantwortliche verletzt seine Pflichten aus Art. 32 und Art. 25 Abs. 1 DSGVO, wenn er – wie hier – bereits konkrete Kenntnis von einem Datenabgriff durch unbefugte Dritte hat und trotzdem – im Einzelfall – bei ex-ante-Betrachtung naheliegende Maßnahmen zur Verhinderung des weiteren unbefugten Datenabgriffs nicht ergreift (im Ergebnis wie Irish Data Protection Commission, 25.11.2022 – IN-21-4-2; siehe auch GA Pitruzzella, 27.4.2023 – C-340/21, BeckRS 2023, 8707 Rn. 20, 29 ff., 38 ff. [BB 2023, 1345]).
6. Ein Schadensersatzanspruch wegen einer solchen der DSGVO nicht entsprechenden Datenverarbeitung scheidet gleichwohl aus, wenn – wie hier – bei der betroffenen Person ein konkreter (tatsächlicher), über den durch die unrechtmäßige Datenverarbeitung ohnehin eintretenden Kontrollverlust hinausgehender (immaterieller) Schaden nicht eingetreten ist (in Anwendung von EuGH, 4.5.2023 – C-300/21, GRUR-RS 2023, 8972 Rn. 29 ff. [BB 2023, 1106]; EuGH, 16.3.2023 – C-522/21, GRUR 2023, 713 Rn. 38; EuGH, 25.3.2021 – C-501/18, BeckRS 2021, 5310 Rn. 112; EuGH, 13.12.2018 – C-150/17 P, BeckRS 2018, 31923 Rn. 86; im Nachgang zu BVerfG, 14.1.2021 – 1 BvR 2853/19, NJW 2021, 1005 Rn. 19 ff. [BB 2021, 513]).
7. Die Darlegungslast für den Eintritt des konkreten immateriellen Schadens liegt beim Betroffenen und kann bei behaupteten persönlichen / psychologischen Beeinträchtigungen nur durch die Darlegung konkret-individueller – und nicht wie hier in einer Vielzahl von Fällen gleichartiger –, dem Beweis zugänglicher Indizien erfüllt werden (im Anschluss an BGH, 3.3.2022 – IX ZR 53/19, NJW 2022, 1457 Rn. 9 [BB 2022, 705]; BGH,12.5.1995 – V ZR 34/94, NJW 1995, 2361 = juris Rn. 17; EuG, 1.2.2017 – T-479/14, BeckRS 2017, 102499 Rn. 118, EuGH, 13.12.2018 – C-150/17 P, IWRZ 2019, 82 Rn. 111, 121).
8. Die Beweislast für den Eintritt des konkreten immateriellen Schadens liegt beim Betroffenen. Der Beweis ist nach dem Maßstab des § 286 ZPO (in Anwendung von EuGH, 4.5.2023 – C-300/21, GRUR-RS 2023, 8972 Rn. 53 [BB 2023, 1106]; EuGH, 16.3.2023 – C-522/21, GRUR 2023, 713 Rn. 38, 46, 49, EuGH, 25.3.2021 – C-501/18, BeckRS 2021, 5310 Rn. 112, 122, 127; im Anschluss an BGH, 6.12.2022 – VI ZR 168/21, r+s 2023, 130 Rn. 14, 17, 19), gegebenenfalls allein durch eine Parteianhörung nach § 141 ZPO zu führen (im Anschluss an BGH, 6.12.2022 – VI ZR 168/21, r+s 2023, 130 Rn. 19).
9. Für die Zulässigkeit einer Klage auf Feststellung der Ersatzpflicht hinsichtlich materieller oder immaterieller Schäden im Sinne des Art. 82 DSGVO genügt – solange nicht reine Vermögensschäden geltend gemacht werden – die Möglichkeit eines Schadenseintritts, die nur zu verneinen ist, wenn bei verständiger Würdigung – wie im vorliegenden Einzelfall – kein Grund besteht, mit dem Eintritt eines derartigen Schadens wenigstens zu rechnen (in Anwendung von EuGH, 4.5.2023 – C-300/21, NZA 2023, 621 Rn. 53, 54 [BB 2023, 1106]; EuGH, 25.3.2021 – C-501/18, BeckRS 2021, 5310 Rn. 126; im Anschluss an BGH, 5.10.2021 – VI ZR 136/20, NJW-RR 2022, 23 Rn. 28; BGH, 29.6.2021 – VI ZR 52/18, NJW 2021, 3130 Rn. 30).
10. Liegt der Schwerpunkt eines Unterlassungsantrages auf einem aktiven Tun und kann dem Unterlassungsbegehren nicht ausschließlich durch das aktive Tun nachgekommen werden, ist ein Antrag auf Androhung nach § 890 Abs. 2 ZPO unzulässig (im Anschluss an BGH, 9.7.2020 – I ZB 79/19, WM 2020, 1826 Rn. 20; BGH, 17.6.2021 – I ZB 68/20, NJW-RR 2021, 1146 Rn. 11 f.).
11. Eine verdeckte, auf aktives Tun gerichtete Leistungsklage ist anders als eine Unterlassungsklage an § 259 ZPO zu messen, dessen Voraussetzung der Besorgnis nicht rechtzeitiger Leistung sich nicht aus einem zurückliegenden Verstoß gegen Art. 25 Abs. 1, Art. 32 DSGVO ergibt, wenn ein solcher im Hinblick auf den konkreten Verarbeitungsvorgang wegen der Deaktivierung der zugrundliegenden Funktionalität zukünftig nicht mehr eintreten wird.
12. Ein Auskunftsanspruch nach Art. 15 Abs. 1 Hs. 2 DSGVO ist im Sinne von § 362 Abs. 1 BGB grundsätzlich erfüllt, wenn die Angaben nach dem erklärten Willen des Schuldners die Auskunft im geschuldeten Gesamtumfang darstellen. Wird die Auskunft in dieser Form erteilt, steht ihre etwaige inhaltliche Unrichtigkeit einer Erfüllung nicht entgegen (im Anschluss an BGH, 15.6.2021 – VI ZR 576/19, r+s 2021, 525 Rn. 19 f.).
13. a) Der Streitwert für eine nichtvermögensrechtliche Streitigkeit richtet sich gemäß § 3 ZPO, § 48 Abs. 2 GKG u. a. nach dem Interesse des Klägers und damit seiner aufgrund des zu beanstandenden Verhaltens zu besorgenden persönlichen / wirtschaftlichen Beeinträchtigung, nach der Stellung der Beteiligten sowie nach Art, Umfang und Gefährlichkeit der zu unterlassenden / begehrten Handlung (im Anschluss an BGH, 25.4.2023 – VI ZR 111/22, GRUR 2023, 1143 Rn. 13; OLG Hamm, 8.11.2013 – 9 W 66/13, NJW-RR 2014, 894 = juris Rn. 5).
b) Das Gericht ist bei der Streitwertbemessung nicht an die subjektiven Wertangaben in der Klageschrift gebunden (im Anschluss an BGH, 8.10.2012 – X ZR 110/11, GRUR 2012, 1288 Rn. 4; BGH, 12.6.2012 – X ZR 104/09, MDR 2012, 875 Rn. 5). Insbesondere kommt ihnen keine indizielle Bedeutung zu, wenn sie – wie hier – das tatsächliche Interesse offensichtlich unzutreffend widerspiegelt (im Anschluss an OLG München, 5.2.2018 – 29 W 1855/17, NJW-RR 2018, 575 = juris Rn. 16).
c) Außer Betracht zu lassen ist insbesondere die über die konkret-individuellen Interessen hinausgehende gesamtgesellschaftliche oder general-präventive sowie die abstrakt-generelle Bedeutung für andere potentiell betroffene Personen (im Anschluss an BGH, 30.11.2004 – VI ZR 65/04, BeckRS 2004, 12785 = juris Rn. 2; BGH, 12.5.2016 – I ZR 1/15, MDR 2016, 1344 Rn. 42).d) Bei einer auf eine Wiederholungsgefahr gestützten Klage kann – so auch hier – die bereits erlittene Beeinträchtigung eine Obergrenze für die Bemessung des Interesses des Klägers darstellen.
(Amtliche Leitsätze)