BAG Erster Senat Schlussbeschluss vom 23. 3. 2023 – 1 ABR 43/18
Wird eine nach § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 iVm. Abs. 2 Nr. 2 MitbestG mitbestimmte Aktiengesellschaft deutschen Rechts in eine SE mit dualistischem System umgewandelt, muss in der Beteiligungsvereinbarung ein gesondertes Wahlverfahren für – von in der SE und ihren Tochtergesellschaften vertretenen Gewerkschaften – vorgeschlagene Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat für alle Arbeitnehmer der SE und ihrer Tochtergesellschaften vorgesehen sein
(Amtlicher Leitsatz)
1. Die Rechtswegrüge eines Beteiligten ist als prozessuale Erwirkungshandlung widerruflich, solange noch keine geschützte Rechtsposition der anderen am Verfahren Beteiligten entstanden ist (Rn. 13).
2. Für Streitigkeiten, deren Gegenstand die Wirksamkeit der Beteiligungsvereinbarung einer Societas Europaea (SE) ist, ist nach § 2a Abs. 1 Nr. 3e ArbGG der Rechtsweg zu den Gerichten für Arbeitssachen gegeben (Rn. 14 ff.).
3. Die Amtszeit des besonderen Verhandlungsgremiums ist funktionsbezogen. Sie endet daher mit Abschluss der Beteiligungsvereinbarung (Rn. 31).
4. Die Rechtswidrigkeit oder Unzulässigkeit eines Verhaltens oder Vorgehens kann nicht Gegenstand einer allgemeinen Feststellungsklage nach § 256 Abs. 1 ZPO sein (Rn. 36).
5. Die Beteiligungsvereinbarung einer SE, die ihren Sitz im Inland hat, ist ein privatrechtlicher Kollektivvertrag sui generis. Ihre Bestimmungen gelten – im Fall ihrer Wirksamkeit – normativ (Rn. 44).
6. Ein Antrag, mit dem die Feststellung begehrt wird, dass nur bestimmte Regelungen einer normativ wirkenden Vereinbarung unwirksam sind, ist nur dann zulässig, wenn ein gesondert feststellungsfähiges Teilrechtsverhältnis gegeben ist. Dies setzt voraus, dass die betroffenen Regelungen einen eigenständigen Teil bilden (Rn. 46).
7. Bezieht sich ein Feststellungsantrag auf die Wirksamkeit eines Rechtsverhältnisses, an dem der Antragsteller nicht beteiligt ist, besteht das erforderliche Feststellungsinteresse nur dann, wenn der Antragsteller in seinem Rechtskreis betroffen ist und ein rechtliches Interesse an der alsbaldigen Klärung hat (Rn. 49).
8. § 21 Abs. 6 Satz 1 SEBG verlangt, dass in der Beteiligungsvereinbarung einer nach § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 iVm. Abs. 2 Nr. 2 MitbestG mitbestimmten Aktiengesellschaft, die in eine SE mit dualistischem System umgewandelt wird, ein getrenntes Wahlverfahren für – von in der SE und ihren Tochtergesellschaften vertretenen Gewerkschaften – vorgeschlagene Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat für alle Arbeitnehmer der SE und ihrer Tochtergesellschaften vorgesehen ist (Rn. 57 ff.).
9. Regelungen in einer Beteiligungsvereinbarung, die den Vorgaben des § 21 Abs. 6 Satz 1 SEBG nicht entsprechen, sind unwirksam (Rn. 68). Ob die Unwirksamkeit einzelner Bestimmungen die Unwirksamkeit weiterer Teile der Beteiligungsvereinbarung zur Folge hat, richtet sich nach den gleichen Grundsätzen, die für Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen gelten. Entscheidend ist danach, ob der verbleibende Teil der Beteiligungsvereinbarung auch ohne die unwirksame Bestimmung noch eine sinnvolle und in sich geschlossene Regelung enthielte (Rn. 47).
10. Im Fall eines Verstoßes der Beteiligungsvereinbarung gegen § 21 Abs. 6 Satz 1 SEBG kommt ein Rückgriff auf die in Teil 3 Kapitel 2 Abschnitt 2 des SE-Beteiligungsgesetzes vorgesehene „Auffanglösung“ nicht in Betracht, weil dies dem – unionsrechtlich gebotenen – Vorrang der Vereinbarungslösung bei der Beteiligung der Arbeitnehmer in einer SE widerspräche (Rn. 74).
(Orientierungssätze)