Die Europäische Kommission hat überarbeitete horizontale Gruppenfreistellungsverordnungen für Forschung und Entwicklung (FuE) und Spezialisierungsvereinbarungen („HGVOs“) sowie überarbeitete Leitlinien dazu veröffentlicht. Vorausgegangen war eine gründliche Überprüfung der geltenden Vorschriften. Margrethe Vestager, Exekutiv-Vizepräsidentin, zuständig für Wettbewerbspolitik, erklärte: „Die überarbeiteten Vorschriften zu Vereinbarungen über horizontale Zusammenarbeit geben klare Orientierungshilfen, damit Unternehmen die Vereinbarkeit ihrer Vereinbarungen mit unseren Wettbewerbsvorschriften prüfen können. Dies gilt auch für gemeinsame Nachhaltigkeitsinitiativen. Die neuen aktuellen Vorschriften sind sehr wichtig, um den grünen und den digitalen Wandel voranzubringen.“
Die überarbeiteten HGVOs und Leitlinien dienen Unternehmen als klare und aktuelle Orientierungshilfen bei der Beurteilung der Frage, ob ihre Vereinbarungen über horizontale Zusammenarbeit mit den EU-Wettbewerbsvorschriften vereinbar sind. Die neuen HGVOs treten am 1. Juli 2023 in Kraft, die Leitlinien nach ihrer Veröffentlichung im Amtsblatt der EU.
Wichtigste Änderungen in den überarbeiteten Vorschriften
Mit den HGVOs werden FuE- und Spezialisierungsvereinbarungen unter bestimmten Voraussetzungen von dem Verbot des Artikels 101 Absatz 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) ausgenommen. Die Vorschriften sehen somit einen geschützten Bereich vor, in dem die betreffenden Vereinbarungen durch Gruppenfreistellung nicht unter die Wettbewerbsvorschriften fallen.
Mit den heute angenommenen überarbeiteten Vorschriften werden folgende Änderungen eingeführt:
- Ausweitung des Anwendungsbereichs der Gruppenfreistellungsverordnung für Spezialisierungsvereinbarungen auf weitere Produktionsvereinbarungen, die von mehr als zwei Parteien geschlossen wurden. Die überarbeiteten Vorschriften sehen ferner eine flexiblere Berechnung der Marktanteile bei der Anwendung der Gruppenfreistellung vor. Sie enthalten auch spezifische Leitlinien für deren Anwendung.
- Größere Klarheit und Flexibilität bei der Berechnung der Marktanteile im Rahmen der FuE-Gruppenfreistellungsverordnung und neue Leitlinien für deren Anwendung. Mehr Bedeutung erhalten durch die überarbeiteten Vorschriften insbesondere der Schutz des Innovationswettbewerbs, vor allem wenn keine Marktanteile berechnet werden können. In diesem Zusammenhang werden die Befugnisse der Kommission und der nationalen Wettbewerbsbehörden betont, den Rechtsvorteil der Freistellung in einzelnen problematischen Fällen zu entziehen.
- Aktualisierung des Einleitungskapitels der Leitlinien durch Berücksichtigung der jüngsten Rechtsprechung zu Schlüsselbegriffen wie aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen, potenzieller Wettbewerb, bezweckte und bewirkte Beschränkungen sowie Nebenabreden. Dieses Kapitel enthält auch neue Leitlinien zur Anwendung von Artikel 101 AEUV auf Vereinbarungen zwischen Gemeinschaftsunternehmen und ihren Muttergesellschaften sowie ausführliche Hinweise zur Anwendung der Leitlinien auf Vereinbarungen über Zusammenarbeit in mehr als einem Tätigkeitsbereich (z. B. Produktion und Vermarktung).
- Neuer Abschnitt über Vereinbarungen über die gemeinsame Nutzung der Mobilfunkinfrastruktur, der im Kapitel der horizontalen Leitlinien für Produktionsvereinbarungen die jüngste Durchsetzungspraxis widerspiegelt. Die neuen Orientierungshilfen enthalten die für die Beurteilung solcher Vereinbarungen relevanten Faktoren und eine Liste von Mindestvoraussetzungen, die die Unternehmen erfüllen müssen, um das Risiko eines Verstoßes gegen die Wettbewerbsregeln zu verringern.
- Erweiterung und Präzisierung des Kapitels der Leitlinien über Einkaufsvereinbarungen, um der jüngsten Fallpraxis Rechnung zu tragen. In der Überarbeitung wird die Unterscheidung zwischen Kartellen, die aus gemeinsamen Einkaufsregelungen bestehen, und Käuferkartellen erläutert. Ferner wird klargestellt, dass unter den gemeinsamen Einkauf auch Regelungen fallen, bei denen die Käufer die Kaufbedingungen gemeinsam aushandeln, aber dann unabhängig voneinander einkaufen. Außerdem wird möglichen wettbewerbswidrigen Auswirkungen auf die vorgelagerte Angebotsseite mehr Raum gegeben und werden Orientierungshilfen zu bestimmten gemeinsamen Verhandlungstaktiken, einschließlich der vorübergehenden Einstellung von Bestellungen, gegeben.
- Erweiterung des Kapitels der Leitlinien zu Vermarktungsvereinbarungen durch Aufnahme eines neuen Abschnitts über Bieterkonsortien und Orientierungshilfen für die Abgrenzung zu Angebotsabsprachen.
- Umstrukturierung und Erweiterung des Kapitels der Leitlinien zum Informationsaustausch, um der jüngsten Rechtsprechung und Durchsetzungspraxis Rechnung zu tragen. Das überarbeitete Kapitel enthält zusätzliche Hinweise zu folgenden Themen: i) Konzept der sensiblen Geschäftsinformationen ii) Arten des Informationsaustauschs, die bezweckte Wettbewerbsbeschränkungen darstellen können iii) potenzielle wettbewerbsfördernde Auswirkungen von Datenpools iv) indirekte Formen des Informationsaustauschs, einschließlich „Hub-and-Spoke“-Vereinbarungen v) wettbewerbswidrige Signalgebung durch öffentliche Bekanntmachungen vi) praktische Maßnahmen, die Unternehmen ergreifen können, um Verstöße zu vermeiden, wie z. B. Beschränkung des Umfangs des Austauschs, Einsatz von „Clean Teams“ oder unabhängigen „Trustees“ und öffentliche Distanzierung
- Änderung des Kapitels der Leitlinien zu Normenvereinbarungen, um die Anforderung einer offenen Beteiligung am Normungsprozess flexibler zu gestalten. In dem überarbeiteten Kapitel wird ferner i) klargestellt, dass die Offenlegung eines kumulierten Höchstsatzes für Lizenzgebühren durch die Parteien einer Normenvereinbarung nicht wettbewerbswidrig ist, und ii) die Verpflichtung der Teilnehmer, einschlägige Rechte des geistigen Eigentums offenzulegen, näher erläutert.
- Neues Kapitel zu Nachhaltigkeitsvereinbarungen, um klarzustellen, dass die Kartellvorschriften Vereinbarungen zwischen Wettbewerbern, mit denen ein Nachhaltigkeitsziel verfolgt wird, nicht entgegenstehen. Die neuen Orientierungshilfen umfassen eine weit gefasste Definition von Nachhaltigkeitszielen auf der Grundlage der Ziele der Vereinten Nationen für nachhaltige Entwicklung und verschiedene Beispiele für Nachhaltigkeitsvereinbarungen, die in der Regel nicht in den Anwendungsbereich von Artikel 101 Absatz 1 AEUV fallen. Die neuen Vorschriften bieten auch einen nicht zwingenden geschützten Bereich für Normenvereinbarungen für die Nachhaltigkeit, sofern bestimmte Bedingungen erfüllt sind. Ferner wird klargestellt, wie eine Nachhaltigkeitsvereinbarung freigestellt werden kann, indem die Arten von Vorteilen beschrieben werden, die berücksichtigt werden können. Außerdem umfasst das neue Kapitel hypothetische Beispiele, die die Anwendung von Artikel 101 AEUV veranschaulichen sollen. Das neue Nachhaltigkeitskapitel erinnert Unternehmen, die eine Nachhaltigkeitsvereinbarung schließen wollen, auch daran, dass sie die Kommission um informelle Orientierungshilfen ersuchen können, um die Einhaltung der EU-Wettbewerbsvorschriften sicherzustellen. Solche Orientierungshilfen können den im neuen Nachhaltigkeitskapitel dargelegten allgemeinen Analyserahmen ergänzen.
Weitere ausführliche Informationen zu den wichtigsten Änderungen sind einem erläuternden Vermerk zu den überarbeiteten Vorschriften zu entnehmen.
Hintergrund des Überprüfungsverfahrens
Im Mai 2021 veröffentlichte die Kommission eine Arbeitsunterlage der Kommissionsdienststellen, in der die Ergebnisse der Bewertung der HGVOs von 2010 und der Horizontal-Leitlinien von 2011 zusammengefasst wurden. Die Evaluierung ergab, dass diese Regelwerke nützlich sind, weil sie es den Unternehmen erheblich erleichtern, ihre horizontalen Vereinbarungen selbst zu prüfen, und zudem die damit verbundenen Befolgungskosten verringert werden. Sie ergab jedoch auch, dass die Vorschriften an die seit ihrer Annahme eingetretenen Entwicklungen auf dem Markt und in der Gesellschaft angepasst werden sollten.
Im Anschluss an die Evaluierung leitete die Kommission im Juni 2021 eine Folgenabschätzung ein. Dafür trug sie weitere Erkenntnisse zu den verbesserungswürdigen Bereichen zusammen, unter anderem durch eine öffentliche Konsultation, Workshops und Gespräche mit Interessenträgern und Vertretern nationaler Wettbewerbsbehörden sowie gezielte Sachverständigengutachten.
Im März 2022 leitete die Kommission eine öffentliche Konsultation zu den Entwürfen der überarbeiteten HGVOs und der Horizontal-Leitlinien ein. Die Ergebnisse der öffentlichen Konsultation sind im Folgenabschätzungsbericht zusammengefasst, der ebenfalls heute veröffentlicht wird. Dieser Bericht enthält weitere Einzelheiten zu den Konsultationstätigkeiten sowie zur Bewertung der vorgeschlagenen Änderungen.
Hintergrundinformationen zu den HGVOs
Artikel 101 Absatz 1 AEUV verbietet wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen zwischen Unternehmen. Nach Artikel 101 Absatz 3 AEUV sind solche Vereinbarungen jedoch mit dem Binnenmarkt vereinbar, wenn sie unter angemessener Beteiligung der Verbraucher an dem entstehenden Gewinn zur Verbesserung der Warenerzeugung oder ‑verteilung oder zur Förderung des technischen oder wirtschaftlichen Fortschritts beitragen, ohne den Wettbewerb auszuschalten.
Die HGVOs nehmen FuE- sowie Spezialisierungsvereinbarungen, die bestimmte Voraussetzungen erfüllen, vom Verbot des Artikels 101 Absatz 1 AEUV aus und schaffen damit einen geschützten Bereich für sie. Dazu gibt es die Horizontal-Leitlinien, die Orientierungshilfen bieten in Bezug auf i) die Anwendung der HGVOs, ii) die Beurteilung von FuE- und Spezialisierungsvereinbarungen, die nicht in den geschützten Bereich fallen, und iii) die Prüfung verschiedener anderer verbreiteter Arten von Vereinbarungen über die Zusammenarbeit zwischen Wettbewerbern. Dazu gehören gemeinsame Einkaufs- und Vermarktungsvereinbarungen, Normenvereinbarungen, der Informationsaustausch sowie Nachhaltigkeitsvereinbarungen.
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(PM v. 1.6.2023)