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BAG: Vorabentscheidungsersuchen – Stellenbesetzungsverfahren – Persönliche Assistenz für Menschen mit Behinderungen – Diskriminierung wegen des Alters – Rechtfertigung – Entschädigung

Das BAG hat mit Vorlagebeschluss (EuGH) vom 24.2.2022 – 8 AZR 208/21 (A) – wie folgt entschieden:

1. Leistungen der sog. Persönlichen Assistenz gemäß § 78 SGB IX, die zur selbstbestimmten und eigenständigen Bewältigung des Alltags einschließlich der Tagesstrukturierung erbracht werden, und die insbesondere Leistungen für die allgemeinen Erledigungen des Alltags wie die Haushaltsführung, die Gestaltung sozialer Beziehungen, die persönliche Lebensplanung, die Teilhabe am gemeinschaftlichen und kulturellen Leben, die Freizeitgestaltung einschließlich sportlicher Aktivitäten umfassen und die die Verständigung mit der Umwelt in diesen Bereichen beinhalten, sind im Einklang mit Art. 19 UN-BRK zu erbringen. Bei der Leistungserbringung ist das gleiche Recht aller Menschen mit Behinderung zu gewährleisten, mit gleichen Wahlmöglichkeiten wie andere Menschen in der Gemeinschaft zu leben und dabei ua. die Entscheidungsmöglichkeit zu haben, wo und mit wem sie leben. Sicherzustellen ist, dass Menschen mit Behinderung in den vollen Genuss dieses Rechts kommen und dabei ihre volle Einbeziehung in die Gemeinschaft und Teilhabe an der Gemeinschaft erleichtert wird (Rn. 10).

2. Soweit mit einer Stellenausschreibung weibliche Assistentinnen in allen Lebensbereichen des Alltags für eine 28-jährige Studentin gesucht werden, die „am besten zwischen 18 und 30 Jahre alt sein“ sollen, fällt eine solche Situation grundsätzlich in den Geltungsbereich der Richtlinie 2000/78/EG, da sie Auswahlkriterien für den Zugang zu Erwerbstätigkeit iSv. Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2000/78/EG betrifft; insoweit findet auch die Charta Anwendung (Rn. 11, 16).

3. Eine 1968 geborene Bewerberin auf eine solche Stellenausschreibung, die eine Absage erhält, wird unmittelbar iSv. § 3 Abs. 1 AGG sowie iSv. Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2000/78/EG benachteiligt. Die Stellenausschreibung, mit der eine Person im Alter zwischen ungefähr 18 und 30 Jahren gesucht wird, begründet im Regelfall die Vermutung, dass das Alter der Bewerberin (mit)ursächlich für die Ablehnung war (Rn. 12, 17).

4. Soweit diese Vermutung nicht durch den Arbeitgeber widerlegt worden ist, ist zu prüfen, ob die gegebene unmittelbare Benachteiligung wegen des Alters gerechtfertigt ist. Diese Prüfung erfolgt in einem besonderen Spannungsfeld, wenn in einer Situation wie der des Rechtsstreits sowohl die Bewerberin als auch die betroffene Person mit Behinderung Schutz vor Diskriminierung beanspruchen können. Denn nach den Bestimmungen der Richtlinie 2000/78/EG sowie nach Art. 21 der Charta kann die abgelehnte Bewerberin, die Beschäftigung sucht, einen wirksamen Schutz vor Diskriminierung wegen ihres Alters beanspruchen. Menschen mit Behinderung, die – wie die 28-jährige Studentin – eine Persönliche Assistenz suchen, können nach Art. 21 der Charta einen wirksamen Schutz vor Diskriminierung wegen ihrer Behinderung beanspruchen. Zudem greift zu ihren Gunsten Art. 26 der Charta ein (Rn. 19 f.).

5. Mit dem Vorabentscheidungsersuchen ist zu klären, ob Art. 4 Abs. 1, Art. 6 Abs. 1, Art. 7 und/oder Art. 2 Abs. 5 der Richtlinie 2000/78/EG – im Licht der Vorgaben der Charta sowie im Licht von Art. 19 UN-BRK – dahin ausgelegt werden können, dass in einer Situation wie der des Rechtsstreits/Ausgangsverfahrens eine unmittelbare Benachteiligung wegen des Alters gerechtfertigt werden kann. Dabei geht es auch um die Frage, ob die für eine etwaige Rechtfertigung der Benachteiligung der wegen des Alters abgelehnten Bewerberin relevanten Regelungen über das Wunsch- und Wahlrecht der Leistungsberechtigten – hier der assistenznehmenden Person – im deutschen Sozialgesetzbuch (§ 8 Abs. 1 SGB IX iVm. § 33 SGB I) mit der Richtlinie 2000/78/EG vereinbar sind oder nicht (Rn. 36 ff.).

6. Nach Auffassung des Senats sind die Wünsche des jeweiligen Menschen mit Behinderung bei Persönlichen Assistenzleistungen nach ua. einem bestimmten Alter der Assistenzperson – soweit im Einzelfall angemessen – zu respektieren. Der Senat kann allerdings nicht beurteilen, ob dafür nach dem Unionsrecht iVm. den einschlägigen Bestimmungen der UN-BRK die in Art. 4 Abs. 1, Art. 6 Abs. 1, Art. 7 und/oder Art. 2 Abs. 5 der Richtlinie 2000/78/EG getroffenen Bestimmungen von Bedeutung sind (Rn. 37, 42, 45, 48, 50).

(Orientierungssätze)