Das BAG hat mit Beschluss vom 23.2.2022 – 10 ABR 33/20 – wie folgt entschieden:
1. Liegen zwei eigenständige Allgemeinverbindlicherklärungen (AVE) desselben Tarifvertrags für denselben Zeitraum vor, hindert die Rechtskraft einer Entscheidung über die Wirksamkeit einer der beiden AVE nicht die Entscheidung über den Antrag betreffend die weitere AVE (Rn. 25 ff.).
2. Da es sich bei der AVE um einen Rechtsetzungsakt eigener Art handelt, führen – wie bei sonstigen Rechtsvorschriften – materielle wie formelle Fehler im Normsetzungsverfahren zur Nichtigkeit der AVE. Hiervon abweichende Rechtsfolgen sehen weder § 5 TVG aF/nF noch die TVG-DVO vor. Auch ein besonderes „Heilungsverfahren“ ist gesetzlich nicht geregelt. Ebenso wenig existiert ein allgemeiner Grundsatz, der die Heilung von Verfahrensfehlern, die zur Unwirksamkeit einer AVE führen, vorsieht und insoweit ein ergänzendes Verfahren ermöglicht (Rn. 35 ff.).
3. Fehlende Heilungsvorschriften schließen allerdings grundsätzlich weder die Berichtigung offenbarer Unrichtigkeiten aus noch die Möglichkeit, die Heilung eines Verfahrensfehlers durch den Neuerlass einer AVE desselben – ggf. bereits außer Kraft getretenen – Tarifvertrags vorzunehmen. Dann aber sind die für den Erlass einer AVE vorgegebenen verfahrensrechtlichen und materiell-rechtlichen Voraussetzungen einzuhalten, insbesondere auch der Grundsatz des Vertrauensschutzes bei rückwirkenden Rechtsnormen (Rn. 41).
4. Die Übertragung des Rechts zum Erlass einer AVE nach § 5 Abs. 6 TVG durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales auf die oberste Arbeitsbehörde eines Landes kann nur im Einzelfall erfolgen. Sie ist auf die Entscheidung über einen bestimmten Antrag auf AVE eines bestimmten Tarifvertrags beschränkt und wirkt nicht fort. Gleiches gilt im Fall der Übertragung des Rechts zur Aufhebung einer AVE. Eine generelle Übertragung der entsprechenden Befugnisse scheidet aus (Rn. 48 ff.).
5. Soll eine AVE eines Tarifvertrags zur Heilung einer unwirksamen AVE desselben Tarifvertrags für denselben Zeitraum erlassen werden, scheidet ein Rückgriff auf die Verfahrensschritte des ersten AVE-Verfahrens regelmäßig – insbesondere nach erheblichem Zeitablauf – aus. Der Zweck dieser Verfahrensschritte, nämlich einer verfahrensmäßigen Absicherung der Interessenabwägung und eine Berücksichtigung schützenswerter Belange der von der AVE Betroffenen wäre in einem solchen Fall nicht gewahrt (Rn. 53 ff.)
(Orientierungssätze)