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EuGH: Missbräuchliche Verdrängungspraxis und Auswirkung auf das Wohl der Verbraucher und die Marktstruktur

Der EuGH hat mit Urteil vom 12.5.2022 – C‑377/20 – entschieden:

1. Art. 102 AEUV ist dahin auszulegen, dass es für die Feststellung, ob eine Verhaltensweise die missbräuchliche Ausnutzung einer beherrschenden Stellung darstellt, ausreicht, wenn eine Wettbewerbsbehörde nachweist, dass diese Verhaltensweise geeignet ist, die Struktur wirksamen Wettbewerbs auf dem relevanten Markt zu beeinträchtigen, es sei denn, das betreffende beherrschende Unternehmen weist nach, dass die wettbewerbswidrigen Wirkungen, die sich aus dieser Verhaltensweise ergeben können, durch positive Auswirkungen auf die Verbraucher, insbesondere in Bezug auf Preise, Auswahl, Qualität und Innovation, ausgeglichen oder sogar übertroffen werden.

2.  Art. 102 AEUV ist dahin auszulegen, dass der von einem Unternehmen in beherrschender Stellung dafür vorgelegte Beweis, dass sein Verhalten keine konkreten beschränkenden Wirkungen entfaltet hat, für sich genommen nicht als ausreichend angesehen werden kann, um die Missbräuchlichkeit dieses Verhaltens auszuschließen. Dieser Beweis kann ein Indiz dafür sein, dass das fragliche Verhalten nicht geeignet war, wettbewerbswidrige Wirkungen zu entfalten, das jedoch durch weitere Beweise zum Nachweis dieser Ungeeignetheit zu ergänzen ist.

3. Art. 102 AEUV ist dahin auszulegen, dass das Vorliegen einer missbräuchlichen Verdrängungspraxis eines Unternehmens in beherrschender Stellung auf der Grundlage der Eignung dieser Praxis, wettbewerbswidrige Wirkungen zu entfalten, zu beurteilen ist. Eine Wettbewerbsbehörde muss nicht die Absicht des betreffenden Unternehmens nachweisen, seine Wettbewerber durch andere Mittel oder unter Rückgriff auf andere Ressourcen als die des Leistungswettbewerbs zu verdrängen. Der Nachweis einer solchen Absicht stellt jedoch einen tatsächlichen Umstand dar, der bei der Feststellung des Missbrauchs einer beherrschenden Stellung berücksichtigt werden kann.

4. Art. 102 AEUV ist dahin auszulegen, dass eine außerhalb des Wettbewerbsrechts rechtmäßige Praxis, die von einem Unternehmen in beherrschender Stellung angewandt wird, als „missbräuchlich“ im Sinne dieser Bestimmung eingestuft werden kann, wenn sie eine Verdrängungswirkung entfalten kann und auf dem Einsatz anderer Mittel als denen eines Leistungswettbewerbs beruht. Sind diese beiden Voraussetzungen erfüllt, kann das betreffende Unternehmen in beherrschender Stellung gleichwohl dem Verbot des Art. 102 AEUV entgehen, wenn es nachweist, dass die fragliche Praxis entweder objektiv gerechtfertigt und dieser Rechtfertigung angemessen ist oder durch Effizienzvorteile, die auch den Verbrauchern zugutekommen, ausgeglichen oder sogar übertroffen wird.

5. Art. 102 AEUV ist dahin auszulegen, dass dann, wenn eine beherrschende Stellung von einer oder mehreren Tochtergesellschaften, die einer wirtschaftlichen Einheit angehören, missbräuchlich ausgenutzt wird, das Bestehen dieser Einheit für die Annahme ausreicht, dass auch die Muttergesellschaft für diesen Missbrauch verantwortlich ist. Das Bestehen einer solchen Einheit ist zu vermuten, wenn zum maßgeblichen Zeitpunkt zumindest nahezu das gesamte Kapital dieser Tochtergesellschaften unmittelbar oder mittelbar von der Muttergesellschaft gehalten wurde. Die Wettbewerbsbehörde braucht keine zusätzlichen Beweise zu erbringen, es sei denn, die Muttergesellschaft weist nach, dass sie nicht befugt war, das Verhalten ihrer Tochtergesellschaften zu bestimmen, da diese eigenständig handeln.