© IMAGO / Rolf Poss

© IMAGO / Rolf Poss

BAG: Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG – Vermutung der Benachteiligung wegen der Schwerbehinderung – Festsetzung der angemessenen Entschädigung iSv. § 15 Abs. 2 AGG – Ermessensspielraum – ungefähr erzielbares Bruttomonatsentgelt

Das BAG hat mit Urteil vom 25.11.2021 – 8 AZR 313/20 – wie folgt entschieden:

1. Der Verstoß des Arbeitgebers gegen Vorschriften, die Verfahrens- und/oder Förderpflichten zugunsten schwerbehinderter Menschen enthalten (wie beispielsweise § 164 Abs. 1 Satz 4 und § 165 Satz 1 SGB IX), begründet regelmäßig die Vermutung einer Benachteiligung wegen der (Schwer)Behinderung iSv. § 22 AGG. Diese Pflichtverletzungen sind nämlich grundsätzlich geeignet, den Anschein zu erwecken, an der Beschäftigung schwerbehinderter Menschen uninteressiert zu sein (Rn. 26).

2. Nach § 164 Abs. 1 Satz 4 SGB IX haben die Arbeitgeber die Schwerbehinderten vertretung und die in § 176 SGB IX genannten Vertretungen über die Vermittlungsvorschläge der Bundesagentur für Arbeit oder eines Integrationsfachdienstes und vorliegende Bewerbungen von schwerbehinderten Menschen unmittelbar nach Eingang zu unterrichten. „Unmittelbar nach Eingang“ iSv. § 164 Abs. 1 Satz 4 SGB IX bedeutet, dass die Unterrichtung umgehend bzw. sofort zu erfolgen hat. Die Pflicht zur Unterrichtung entsteht demzufolge mit dem Moment, in dem der Arbeitgeber erkennt bzw. erkennen muss, dass es sich um eine/n schwerbehinderte/n oder gleichgestellte/n Bewerber/in handelt. Nicht „unmittelbar nach Eingang“ erfolgt die Unterrichtung demnach, wenn eingegangene Bewerbungen bzw. Vermittlungsvorschläge zunächst gesammelt werden und erst später in gebündelter Form eine Unterrichtung stattfindet. Unter „Unterrichtung“ iSv. § 164 Abs. 1 Satz 4 SGB IX ist mehr als nur das Einräumen eines Zugangs zu Bewerbungsunterlagen zu verstehen. Vielmehr ist eine gezielte Unterrichtung unter Hinweis auf die Schwerbehinderung des/der einzelnen Bewerbers/Bewerberin notwendig (Rn. 31).

3. Nach § 165 Satz 1 SGB IX melden die Dienststellen der öffentlichen Arbeitgeber den Agenturen für Arbeit frühzeitig frei werdende und neu zu besetzende sowie neue Arbeitsplätze. Damit soll einerseits gewährleistet werden, dass der Arbeitgeber von der Agentur für Arbeit Kenntnis über geeignete schwerbehinderte Bewerber und Bewerberinnen für die freie Stelle erhält und andererseits soll möglichst vielen geeigneten schwerbehinderten Menschen die Möglichkeit eröffnet werden, Arbeit zu finden. § 165 Satz 1 SGB IX ist demzufolge ein gesetzlich vorgesehenes Instrument zur Förderung der Teilhabe schwerbehinderter und ihnen gleichgestellter Menschen am Arbeitsleben, das gleichzeitig „Vorkehrung“ iSv. Art. 5 der Richtlinie 2000/78/EG ist und mit dem die Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes auf Menschen mit Behinderung gewährleistet werden soll. Der Verstoß des öffentlichen Arbeitgebers gegen seine Verpflichtung aus § 165 Satz 1 SGB IX ist grundsätzlich geeignet, die Vermutung iSv. § 22 AGG zu begründen, dass der/die schwerbehinderte erfolglose Bewerber/in die Benachteiligung wegen der Schwerbehinderung erfahren hat. Der objektiv gesetzeswidrig handelnde Arbeitgeber erweckt durch den Verstoß gegen seine Pflichten aus § 165 Satz 1 SGB IX nicht nur den Anschein, an der Beschäftigung schwerbehinderter Menschen uninteressiert zu sein, sondern auch den Anschein, möglichen Vermittlungsvorschlägen und Bewerbungen von arbeitsuchenden schwerbehinderten Menschen aus dem Weg gehen zu wollen (Rn. 36).

4. Eine Meldung ist nur ordnungsgemäß iSv. § 165 Satz 1 SGB IX, wenn der nach § 187 Abs. 4 SGB IX bei der Agentur für Arbeit jeweils eingerichteten besonderen Stelle ein Vermittlungsauftrag unter Angabe der Daten erteilt wird, die für einen qualifizierten Vermittlungsvorschlag erforderlich sind. Eine bloße Veröffentlichung eines Stellenangebots über die Jobbörse der Agentur für Arbeit ist demgegenüber keine Meldung iSv. § 165 Satz 1 SGB IX, denn damit wird der Agentur für Arbeit nicht die Suche nach geeigneten schwerbehinderten Personen übertragen (Rn. 37 f.).

5. Im Rahmen des ihm bei der Festsetzung der angemessenen Entschädigung iSv. § 15 Abs. 2 AGG eröffneten Ermessensspielraums – der kein „Beurteilungsspielraum“ ist – ist das Gericht nicht gehalten, stets die „exakte“ Höhe des auf der ausgeschriebenen Stelle zu erwartenden Bruttomonatsentgelts zu ermitteln. Eine Anknüpfung an das auf der ausgeschriebenen Stelle ungefähr erzielbare Bruttomonatsentgelt reicht aus. Andernfalls würde die Durchsetzung eines Anspruchs auf Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG in Fällen, in denen das auf der ausgeschriebenen Stelle zu erwartende Bruttomonatsentgelt nicht „exakt“ feststeht, mit einem – inzidenter durchzuführenden – Eingruppierungsprozess oder vergleichbaren Rechtsstreit belastet, was mit den unionsrechtlichen Vorgaben (insbesondere dem Effektivitätsgrundsatz des Unionsrechts) nicht vereinbar wäre (Rn. 44).

(Orientierungssätze)