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„Digitales“ Zugangsrecht der Gewerkschaft zum Betrieb

– Pflicht des Arbeitgebers zur Mitteilung von betrieblichen E-Mail-Adressen der Arbeitnehmer – Nutzung eines digitalen Unternehmensnetzwerks durch eine Gewerkschaft – Verlinkung auf gewerkschaftliche Webseite im Intranet eines Arbeitgebers

BAG, Urteil vom 28.1.2025 – 1 AZR 33/24

  1. Art. 9 Abs. 3 GG schützt Koalitionen nicht nur in ihrem Bestand und ihrer organisatorischen
    Ausgestaltung, sondern auch in ihren Betätigungen, soweit diese der Wahrung
    oder Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen dienen. Hierzu gehören
    insbesondere die Werbung neuer Mitglieder und die Information von Arbeitnehmern
    über die gewerkschaftlichen Aktivitäten (Rn. 36 f.).
  2. Kollidiert die Art und Weise der gewerkschaftlichen Mitgliederwerbung mit verfassungsrechtlich
    gewährleisteten Rechtspositionen des Arbeitgebers, bedarf es einer
    Ausgestaltung durch die Rechtsordnung, die – mangels Tätigwerdens des Gesetzgebers ggf. durch richterliche Rechtsfortbildung zu erfolgen hat. Hierbei ist im Weg praktischer Konkordanz ein möglichst schonender Ausgleich der gegenläufigen Grundrechtspositionen zu erzielen (Rn. 39 ff.).
  3. Bei der Ausgestaltung der Koalitionsbetätigungsfreiheit durch die Gerichte müssen
    die grundrechtlich verbürgten Gewährleistungen der Arbeitnehmer berücksichtigt werden,
    soweit diese betroffen sind (Rn. 70).
  4. Der Anspruch einer tarifzuständigen Gewerkschaft gegen einen Arbeitgeber auf bloße – Mitteilung der betrieblichen E-Mail-Adressen seiner Arbeitnehmer zum Zweck gewerkschaftlicher Information und Mitgliederwerbung kann nicht auf eine gesetzesvertretende Rechtsfortbildung durch die Gerichte gestützt werden. Eine von ihnen vorzunehmende Ausgestaltung der Koalitionsfreiheit darf nicht auf das „Wie“ des Zugangs zum betrieblichen Kommunikationssystem beschränkt werden, sondern muss stets auch die von Art. 9 Abs. 3 GG geschützte Betätigung der Gewerkschaft selbst erfassen (Rn. 41 ff.).
  5. Das Begehren einer tarifzuständigen Gewerkschaft, über das betriebliche E-Mail-
    System eines Arbeitgebers in bestimmtem Umfang Werbung zu betreiben und entsprechende
    Informationen an dessen Arbeitnehmer zu versenden, fällt in den Schutzbereich
    von Art. 9 Abs. 3 GG. Die dem Arbeitgeber durch Art. 9 Abs. 3 GG garantierte
    Koalitionsfreiheit wird hierdurch nicht betroffen (Rn. 61, 64).
  6. Begehrt die Gewerkschaft die Mitteilung von betrieblichen E-Mail-Adressen der
    Arbeitnehmer durch den Arbeitgeber und möchte sie diese für die Übersendung von
    E-Mails verwenden, berührt dies nicht die negative Koalitionsfreiheit aus Art. 9 Abs. 3
    GG der betroffenen Arbeitnehmer. Ein solches Verlangen kann jedoch sowohl mit
    deren – durch Art. 2 Abs. 1 iVm. Art. 1 Abs. 1 GG gewährleisteten – informationellem
    Selbstbestimmungsrecht als auch mit dem in Art. 8 GRC verbürgten Recht auf Schutz
    personenbezogener Daten konfligieren, wenn der Nutzername der jeweiligen E-Mail-
    Adresse der Name des Arbeitnehmers ist (Rn. 66 ff., 71 ff.).
  7. Haben das informationelle Selbstbestimmungsrecht und Art. 8 GRC im konkreten
    Kontext den gleichen Inhalt und die gleiche Bedeutung, bedarf es keiner Entscheidung
    darüber, ob das in der Verfassung garantierte Grundrecht durch den – bei vollständig
    vereinheitlichtem Unionsrecht bestehenden – Anwendungsvorrang des unionalen
    Grundrechts verdrängt wird (Rn. 69).
  8. Es ist nicht generell ausgeschlossen, dass eine richterrechtliche Ausgestaltung der
    Koalitionsbetätigungsfreiheit kooperative Elemente zugunsten des sozialen Gegenspielers
    vorsieht, die für die andere Seite mit Belastungen verbunden sind (Rn. 77).
  9. Der Umstand, dass eine Gewerkschaft im Betrieb Werbemaßnahmen durchführen
    und die Arbeitnehmer persönlich ansprechen will, um deren betriebliche E-Mail-
    Adresse für eine Übersendung weiterer Werbung und Informationen zu erhalten, kann
    in der Regel die – von der Gewerkschaft aufzuzeigende – Notwendigkeit eines mehr
    als einmal im Halbjahr erfolgenden Zutritts zum Betriebsgelände begründen (Rn. 83).
  10. Das Interesse einer tarifzuständigen Gewerkschaft, ein üblicherweise im Betrieb
    verwendetes soziales Netzwerk des Arbeitgebers für Werbe- und Informationszwecke
    zu nutzen, ist grundsätzlich durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützt (Rn. 107).
  11. § 9 Abs. 3 Satz 2 BPersVG kann im Geltungsbereich des Betriebsverfassungsgesetzes
    nicht analog angewendet werden (Rn. 121 ff.).

(Orientierungssätze)