Die Kommission ist nicht berechtigt, die Verweisung von geplanten Zusammenschlüssen ohne europaweite Bedeutung durch nationale Wettbewerbsbehörden an sie anzuregen oder zu akzeptieren, wenn diese nach nationalem Recht nicht für die Prüfung dieser Vorhaben zuständig sind
Am 21. September 2020 gaben die Grail LLC, eine US-amerikanische Gesellschaft, die Bluttests für die Früherkennung von Krebserkrankungen entwickelt, und die Illumina Inc., eine auf genetische Analysen spezialisierte US-amerikanische Gesellschaft, den geplanten Erwerb der ausschließlichen Kontrolle über Grail durch Illumina bekannt. Da der Zusammenschluss, insbesondere weil Grail weder in der Europäischen Union noch an einem anderen Ort der Welt Umsätze erwirtschaftete, keine europaweite Bedeutung hatte, wurde er nicht bei der Kommission angemeldet. Ferner wurde er auch nicht in den Mitgliedstaaten oder den Vertragsstaaten des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) angemeldet, da er die maßgeblichen nationalen Schwellenwerte nicht erreichte.
Die Kommission, die mit einer Beschwerde gegen diesen Zusammenschluss befasst war, forderte die Mitgliedstaaten auf, gemäß der Fusionskontrollverordnung1 mögliche Anträge zu stellen, um diesen geplanten Zusammenschluss gleichwohl von ihr prüfen zu lassen, da er den Handel zwischen den Mitgliedstaaten beeinträchtigen könne und den Wettbewerb in ihrem Hoheitsgebiet erheblich zu beeinträchtigen drohe. Bei der Kommission ging ein entsprechender Antrag der französischen Wettbewerbsbehörde ein, dem sich auch die griechische, die belgische, die norwegische, die isländische und die niederländische Wettbewerbsbehörde anschlossen. Mit seinem Urteil Illumina/Kommission2 wies das Gericht die Klage ab, die Illumina gegen die Beschlüsse, mit denen die Kommission dem Verweisungsantrag und den Anträgen auf Anschließungen stattgab, erhoben hatte. Illumina und Grail legten gegen dieses Urteil jeweils Rechtsmittel ein.
Der Gerichtshof hebt das Urteil des Gerichts auf und erklärt die streitigen Kommissionsbeschlüsse für nichtig.
Er ist der Auffassung, dass das Gericht zu dem fehlerhaften Ergebnis gelangt ist, dass nach einer wörtlichen, historischen, systematischen und teleologischen Auslegung der Fusionskontrollverordnung die nationalen Wettbewerbsbehörden bei der Kommission die Prüfung eines Zusammenschlusses beantragen könnten, der nicht nur keine europaweite Bedeutung hat, sondern darüber hinaus ihrer Kontrollzuständigkeit entzogen ist, weil er nicht die anwendbaren nationalen Schwellenwerte erreicht. Insbesondere hat das Gericht zu Unrecht festgestellt, dass diese Verordnung ein „Korrektiv“ vorsehe, das auf eine wirksame Kontrolle sämtlicher Zusammenschlüsse mit erheblichen Auswirkungen auf die Wettbewerbsstruktur in der Union abziele.
Die Auslegung des Gerichts ist nach Ansicht des Gerichtshofs geeignet, das Gleichgewicht zwischen den verschiedenen mit dieser Verordnung verfolgten Zielen zu stören. Insoweit führt der Gerichtshof aus, dass die Schwellenwerte, die festgelegt werden, um zu bestimmen, ob ein Zusammenschluss anzumelden ist oder nicht, ein wichtiger Garant für Vorhersehbarkeit und Rechtssicherheit für die betroffenen Unternehmen sind. Sie müssen nämlich leicht feststellen können, ob ihr geplanter Zusammenschluss einer vorherigen Prüfung zu unterziehen ist und, wenn ja, durch welche Behörde und unter welchen Verfahrensanforderungen.
1 Art. 22 der Verordnung (EG) Nr. 139/2004 des Rates vom 20. Januar 2004 über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen.
2 Urteil vom 13. Juli 2022, Illumina/Kommission, T-227/21 (vgl. auch Pressemitteilung Nr. 123/22)
EuGH C-625/22 P | Grail / Kommission und Illumina