Während der COVID-19-Pandemie kam es durch die zu ihrer Bekämpfung eingesetzten Maßnahmen zu erheblichen Einschränkungen des öffentlichen Lebens. Mit den sogenannten Sozialschutz-Paketen ist deswegen durch den Gesetzgeber versucht worden, die sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen abzumildern. Hierzu gehören auch Regelungen, die einen einfacheren Zugang zu bestimmten Sozialleistungen ermöglichen sollten. Die Umsetzung gelang in der Praxis jedoch nicht immer problemlos oder einheitlich.
Für die Gewährung von Arbeitslosengeld II nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) – dem sog. „Hartz IV“, jetzt Bürgergeld – etwa sollte eine Leistungsgewährung vorübergehend auch ohne aufwendige Vermögensprüfung ermöglicht werden. Denn die Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende nach dem SGB II setzen prinzipiell voraus, dass der Antragsteller seinen Lebensunterhalt nicht selbst durch Einkommen und Vermögen sicherstellen kann. Die im März 2020 in Kraft getretene Regelung des § 67 SGB II bestimmte jedoch für während der Corona-Pandemie beginnende Bewilligungszeiträume u.a., dass Vermögen für eine Dauer von sechs Monaten nicht berücksichtigt wird. Dies soll aber nur gelten, soweit das Vermögen nicht „erheblich“ ist. Wann Vermögen erheblich ist, gibt die Regelung nicht vor. Die Bundesagentur für Arbeit (BA) nimmt in ihren fachlichen Weisungen die Grenze bei einem Vermögen von mehr als 60.000 Euro für eine Einzelperson an. Hierbei stützt sich die BA auf das Wohngeldrecht. Dieses sieht ebenfalls einen Anspruchsausschluss bei erheblichem Vermögen vor und benennt dazu einen Betrag von mehr als 60.000 Euro für das erste zu berücksichtigende Haushaltsmitglied. Hierdurch soll eine missbräuchliche Inanspruchnahme verhindert werden. Die fachlichen Weisungen der BA sind nur für die Jobcenter bindend, die von der BA gemeinsam mit einer Kommune getragen werden. Das sind in Baden-Württemberg 33 von 44 Jobcentern. Die weiteren Jobcenter werden nur von einer Stadt oder einem Landkreis getragen (sog. Optionskommunen).
Vor diesem Hintergrund hatte der 3. Senat des Landessozialgerichts Baden-Württemberg (LSG) in einem aktuell entschiedenen Fall zu klären, ob das Vermögen des im Landkreis Ravensburg wohnhaften Klägers der Gewährung von Arbeitslosengeld II entgegenstand. Das örtliche zuständige Jobcenter einer Optionskommune verwendete von der BA erstellte Antragsformulare. Auf diesen fand sich die Erläuterung: „Erheblich ist kurzfristig für den Lebensunterhalt verwertbares Vermögen der Antragstellerin/des Antragstellers über 60.000 Euro sowie über 30.000 Euro für jede weitere Person in der Bedarfsgemeinschaft.“ Der Kläger verneinte darauf ein erhebliches Vermögen. Das Jobcenter lehnte den Antrag ab, da der Kläger nach den vorgelegten Unterlagen über verwertbares Vermögen von rund 54.000 Euro verfüge. Ein Vermögensfreibetrag von 60.000 Euro finde im Gesetz keine Stütze. Erhebliches Vermögen liege vielmehr dann vor, wenn im Einzelfall für jedermann offenkundig sei, dass Grundsicherungsleistungen nicht gerechtfertigt seien.
Nach dem Sozialgericht Konstanz gab nun auch der 3. Senat des LSG dem Kläger recht und wies die Berufung des Jobcenters gegen die erstinstanzliche Entscheidung zurück. Das Vermögen des Klägers liege unter dem einschlägigen Grenzwert zur Bestimmung erheblichen Vermögens von 60.000 Euro. Dieser Grenzwert ergebe sich nicht direkt aus dem Wortlaut des SGB II. Auch aus den Gesetzesmaterialien ergebe sich lediglich, dass ein „wesentlich vereinfachtes Verfahren“ eingeführt werden solle, um die „insbesondere bei Erstanträgen oft sehr aufwändig[e]“ Vermögensprüfung nicht durchführen zu müssen. Jedoch dränge sich wegen der Funktion und des deckungsgleichen Wortlauts die Parallele zum Wohngeldrecht auf. Diese Auslegung des Begriffs des erheblichen Vermögens erscheine vor dem Hintergrund des Gesetzeszwecks, der Praktikabilität in Massenverfahren während der Pandemie und bei Berücksichtigung des Gleichheitsgrundsatzes vorzugswürdig gegenüber einer jeweiligen Festlegung eines individuellen Grenzwerts. Da im Ergebnis vollkommen offen bleibe, anhand welcher Kriterien der Grenzwert im jeweiligen Einzelfall bestimmt werden solle, ergäbe sich daraus eine erhebliche Rechtsunsicherheit für Betroffene und Rechtsanwender, was dem mit der Regelung verfolgten Zweck der Verwaltungsvereinfachung entgegenstehe. Die Erklärung, dass bei einem reinen Geldvermögen die Gewährung existenzsichernder Leistungen für jedermann offenkundig nicht gerechtfertigt sei, ließe sich bei einer Höhe eines Barvermögens von beispielsweise 40.000 Euro mangels greifbarer Maßstäbe genauso postulieren wie bei 50.000 Euro. Dies sei auch vor dem Hintergrund des Gleichheitssatzes nicht erstrebenswert.
Urteil vom 28. Juni 2023, Aktenzeichen L 3 AS 3160/21
(Pressemitteilung vom 11.7.2023)