BAG, Urteil vom 29.6.2023 – 2 AZR 296/22
2 AZR 296/22 – ECLI:DE:BAG:2023:290623.U.2AZR296.22.0
Offene Videoüberwachung – Verwertungsverbot
1. In einem Kündigungsschutzprozess besteht nach Maßgabe der Datenschutz-Grundverordnung und der Zivilprozessordnung grundsätzlich kein Verwertungsverbot in Bezug auf solche Aufzeichnungen aus einer offenen Videoüberwachung, die vorsätzlich vertragswidriges Verhalten des Arbeitnehmers belegen sollen. Das gilt auch dann, wenn die Überwachungsmaßnahme des Arbeitgebers nicht vollständig im Einklang mit den Vorgaben des Datenschutzrechts steht.
2. Den Betriebsparteien fehlt die Regelungsmacht, ein über das formelle Verfahrensrecht der Zivilprozessordnung hinausgehendes Verwertungsverbot zu begründen, oder die Möglichkeit des Arbeitgebers wirksam zu beschränken, in einem Individualrechtsstreit Tatsachenvortrag über betriebliche Geschehnisse zu halten.
(Amtliche Leitsätze)
1. Die Verarbeitung personenbezogener Daten durch die Gerichte für Arbeitssachen im Rahmen ihrer rechtsprechenden Tätigkeit ist – selbst wenn damit eine Zweckänderung gegenüber der Datenerhebung verbunden oder diese rechtswidrig gewesen sein sollte – grundsätzlich nach Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. e iVm. Abs. 3 und ggf. Abs. 4 iVm. Art. 23 Abs. 1 Buchst. f und j DSGVO iVm. § 3 BDSG iVm. §§ 138, 286, 371 ff. ZPO rechtmäßig (Rn. 22 ff.).
2. Soweit sich in verfassungskonformer Auslegung des nationalen Verfahrensrechts ausnahmsweise das Verbot für das Gericht ergeben sollte, Sachvortrag oder Beweismittel zu verwerten, die im Zug einer das Recht des Arbeitnehmers auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 iVm. Art. 1 Abs. 1 GG) verletzenden Datenverarbeitung vom Arbeitgeber erlangt wurden, fehlte es an einer Rechtsgrundlage im mitgliedstaatlichen Verfahrensrecht iSv. Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. e iVm. Abs. 3 Satz 1 Buchst. b DSGVO und damit zugleich an einer unionsrechtlichen Ermächtigung für die Datenverarbeitung durch das Gericht (Rn. 29).
3. Ein auf Art. 2 Abs. 1 iVm. Art. 1 Abs. 1 GG gestütztes Verwertungsverbot scheidet regelmäßig in Bezug auf solche Bildsequenzen aus einer offenen Videoüberwachung aus, die vorsätzlich begangene Pflichtverletzungen zulasten des Arbeitgebers zeigen (sollen), ohne dass es auf die Rechtmäßigkeit der gesamten Überwachungsmaßnahme ankäme. Das grundgesetzlich verbürgte Recht auf informationelle Selbstbestimmung kann nicht zu dem alleinigen Zweck in Anspruch genommen werden, sich der Verantwortung für vorsätzliches rechtswidriges Handeln zu entziehen. Datenschutz ist kein Tatenschutz (Rn. 31 ff.).
4. Den Betriebsparteien fehlt die Regelungsmacht, ein über das formelle Verfahrensrecht der Zivilprozessordnung hinausgehendes Verwertungsverbot zu begründen oder die Möglichkeit des Arbeitgebers wirksam zu beschränken, in einem Individualrechtsstreit Tatsachenvortrag über betriebliche Geschehnisse zu halten (Rn. 53). 5. Überdies sind (betriebliche) Regelungen nach § 134 BGB nichtig, die – wie regelmäßig ein Verbot, entsprechende Erkenntnisse aus einer Überwachungsmaßnahme in einen Kündigungsschutzprozess einzuführen – auf eine erhebliche Erschwerung des Rechts des Arbeitgebers zur außerordentlichen Kündigung aus § 626 BGB hinauslaufen (Rn. 54).
(Orientierungssätze)