Das Oberverwaltungsgericht hat mit einem nunmehr zugestellten Urteil vom 29.11.2022 (4 A 2856/18, I. Instanz: VG Arnsberg 7 K 5837/17) entschieden, dass die Steuerberaterkammer Westfalen-Lippe einem Steuerberater eine Ausnahmegenehmigung dafür erteilen muss, dass dieser seine weitere, circa 40 km von seiner beruflichen Niederlassung entfernte Beratungsstelle ohne einen anderen Steuerberater als Leiter betreiben darf.
Steuerberater können neben der notwendig zu unterhaltenden beruflichen Niederlassung weitere Beratungsstellen unterhalten, soweit dadurch die Erfüllung der Berufspflichten nicht beeinträchtigt wird. Leiter der weiteren Beratungsstelle muss grundsätzlich ein anderer Steuerberater oder Steuerbevollmächtigter sein, der seine berufliche Niederlassung am Ort der Beratungsstelle oder in deren Nahbereich hat. Die für die berufliche Niederlassung zuständige Steuerberaterkammer kann auf Antrag eine Ausnahme von diesem „Leitererfordernis“ zulassen. Kriterien für die Entscheidung über eine Ausnahme sind in der Berufsordnung der Steuerberater aufgeführt.
Die Beklage hatte den Antrag des Klägers aus dem Ennepe-Ruhr-Kreis auf Erteilung einer Ausnahmegenehmigung vom Leitererfordernis für seine weitere Beratungsstelle abgelehnt. Auch wenn keine konkrete Gefährdung der Berufspflichten drohe, müssten atypischer Umstände gegeben sein, um dem vom Gesetzgeber vorgegebenen Regel-Ausnahme-Verhältnis Rechnung zu tragen, woran es fehle.
Der 4. Senat des Oberverwaltungsgerichts ist dieser Argumentation nicht gefolgt und hat zur Begründung seiner Entscheidung im Wesentlichen ausgeführt:
Das Erfordernis, für eine weitere Beratungsstelle einen anderen Steuerberater als Leiter einzusetzen, beruht auf der Erwägung des Gesetzgebers, dass die gleichzeitige Leitung einer Hauptniederlassung und einer auswärtigen Beratungsstelle grundsätzlich im Sinne einer abstrakten Gefahr die gewissenhafte Berufsausübung eines Steuerberaters gefährdet. Die Bundessteuerberaterkammer hat in Wahrnehmung ihrer Regelungsautonomie in der Berufsordnung Bewertungskriterien bestimmt, die bei der Beurteilung heranzuziehen sind, ob im Einzelfall eine Gefahr für die Verletzung von Berufspflichten ausgeschlossen ist. Ergibt die von der Steuerberaterkammer nach den in der Berufsordnung festgelegten Bewertungskriterien durchzuführende Einzelfallprüfung, dass eine konkrete Gefährdung von Berufspflichten im Einzelfall nicht zu erwarten ist, besteht ein Anspruch des Steuerberaters auf die Zulassung der Ausnahme. Insofern ist der zuständigen Steuerberaterkammer kein Ermessensspielraum mehr eröffnet. Insbesondere darf nicht zusätzlich auf das Vorliegen atypischer Umstände abgestellt werden.
Der Senat hat die Revision zum Bundesverwaltungsgericht wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen, weil die Entscheidungspraxis zwischen den verschiedenen Steuerberaterkammern stark differiert. So hatte der Kläger vor dem Wechsel seiner Niederlassung von der damals zuständigen Steuerberaterkammer Düsseldorf mehrfach die begehrten Ausnahmen für eine weitere Beratungsstelle erteilt bekommen.
(Quelle: PM OVG Nordrhein-Westfalen vom 14.12.2022)