Das BAG hat mit Beschluss vom 22.6.2021 – 1 ABR 28/20 – wie folgt entschieden:
1. Das mit einem Antrag iSv. § 97 Abs. 1 ArbGG verfolgte Begehren, die fehlende Tariffähigkeit einer Arbeitnehmerorganisation ab einem vor der gerichtlichen Anhörung liegenden Zeitpunkt feststellen zu lassen, ist in zeitlicher Hinsicht regelmäßig teilbar. Deshalb liegt kein Verstoß gegen § 308 Abs. 1 ZPO vor, wenn das Landesarbeitsgericht eine entsprechende Feststellung erst ab einem späteren als den beantragten Zeitpunkt ausspricht (Rn. 19).
2. Tariffähig kann nur eine Arbeitnehmervereinigung sein, die ein Mindestmaß an Verhandlungsgewicht und damit eine gewisse Durchsetzungskraft gegenüber dem sozialen Gegenspieler aufweist. Die hinreichende Durchsetzungskraft und Leistungsfähigkeit einer Arbeitnehmerkoalition wird regelmäßig durch die Zahl ihrer Mitglieder vermittelt; maßgebend ist ihre Organisationsstärke im Verhältnis zu dem von der Vereinigung selbst gewählten räumlichen, fachlichen und ggf. persönlichen Organisationsbereich (Rn. 30 ff.).
3. Da die von Art. 9 Abs. 3 GG geschützte Tarifautonomie nur funktionsfähig ist, solange zwischen den Tarifvertragsparteien ein ungefähres Kräftegleichgewicht besteht, ist es mit dem Grundrecht der Koalitionsfreiheit vereinbar, lediglich solche Arbeitnehmerorganisationen an der Tarifautonomie teilnehmen zu lassen, die in der Lage sind, den von der staatlichen Rechtsordnung freigelassenen Raum des Arbeitslebens durch Tarifverträge sinnvoll zu gestalten, um so die Gemeinschaft sozial zu befrieden (Rn. 36).
4. Die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie bildet dort, wo der Gesetzgeber seine normativen Regelungskompetenzen zur Gestaltung von Arbeitsbedingungen wahrnimmt, eine notwendige Voraussetzung, um den Tarifvertragsparteien durch – im Hinblick auf Art. 9 Abs. 3 GG ggf. sogar gebotene – Tariföffnungsklauseln Regelungsbefugnisse einzuräumen, die aus Gründen des Arbeitnehmerschutzes den Arbeitsvertragsparteien versagt sind (Rn. 37).
5. Da eine über die bloße Rechtskontrolle hinausgehende inhaltliche Bewertung von Tarifverträgen durch staatliche Gerichte mit der grundrechtlich verbürgten Tarifautonomie unvereinbar wäre, stellen weder eine erweiterte Inhaltskontrolle von Tarifverträgen noch eine – wie auch immer geartete – „Bagatellkontrolle“ mildere Mittel gegenüber dem für die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie unerlässlichen Erfordernis einer sozialen Mächtigkeit tariffähiger Arbeitnehmerorganisationen dar (Rn. 40).
6. Solange der Gesetzgeber die Voraussetzungen für die Gewerkschaftseigenschaft und damit die Tariffähigkeit nicht regelt, ist es Aufgabe der Gerichte für Arbeitssachen, diese im Lichte des Art. 9 Abs. 3 GG näher zu umschreiben; aus diesem Grund ist es – auch vor dem Hintergrund der ohnehin lediglich für das Verhältnis von Staat und Bürger geltenden Wesentlichkeitstheorie – unschädlich, dass die Anforderungen an die Tariffähigkeit einer Arbeitnehmervereinigung nicht auf einer formalgesetzlichen Grundlage beruhen (Rn. 42).
7. Die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zu den Mindestvoraussetzungen einer tariffähigen Arbeitnehmerkoalition ist keine unzulässige richterliche Rechtsfortbildung (Rn. 43).
8. Ob die Durchsetzungsfähigkeit einer Arbeitnehmerorganisation gegeben ist, muss bei jeder Koalition nach ihrer konkreten Situation im Einzelfall beurteilt werden. Bereits von Verfassungs wegen scheiden strikte schematische Vorgaben – etwa im Sinn eines Mindestprozentsatzes des Organisationsgrads – aus (Rn. 44).
9. Weder unions- noch völkerrechtliche Bestimmungen stehen dem Erfordernis der hinreichenden Durchsetzungs- und Leistungsfähigkeit einer tariffähigen Arbeitnehmervereinigung entgegen (Rn. 46).
10. Weil die Tariffähigkeit einer Arbeitnehmerkoalition für den beanspruchten Zuständigkeitsbereich einheitlich und unteilbar ist, genügt es für die Annahme ihrer Durchsetzungskraft, dass die Vereinigung diese in einem zumindest nicht unbedeutenden Teil ihres beanspruchten Zuständigkeitsbereichs besitzt (Rn. 49).
11. Die Beurteilung der hinreichenden Durchsetzungsfähigkeit einer Arbeitnehmervereinigung kann weder anhand des Verhältnisses ihrer Mitgliederzahlen zu den insgesamt in ihrem Zuständigkeitsbereich gewerkschaftlich Organisierten beurteilt werden noch kann bei der Bewertung auf eine Relation ihres Mitgliederbestands zur normativen Tarifbindung von Arbeitnehmern in dem von ihr reklamierten Zuständigkeits(teil)bereich abgestellt werden (Rn. 50).
12. Bei der Beurteilung der Durchsetzungsmacht ist die von der Arbeitnehmerkoalition in ihrer Satzung festgelegte Organisationszuständigkeit zugrunde zu legen; in welchem Bereich sie tatsächlich Tarifverhandlungen führt oder -abschlüsse tätigt, ist unerheblich (Rn. 51).
13. Im Rahmen der Würdigung, ob eine Arbeitnehmervereinigung die notwendige mitgliedervermittelte Durchsetzungskraft gegenüber ihren Gegenspielern besitzt, müssen auch allgemeine Organisationsgrade in den Blick genommen werden; dies stellt vor dem Hintergrund – sich ggf. wandelnder – gesellschaftlicher Wirklichkeiten sicher, dass solche Vereinigungen ihre in Art. 9 Abs. 3 GG vorgesehene Aufgabe erfüllen können (Rn. 52).
14. Für die Frage, ob eine Arbeitnehmerorganisation in der Lage ist, ausreichenden Druck auf ihre sozialen Gegenspieler aufzubauen, um Tarifverträge auszuhandeln, die den Interessen beider Seiten gerecht werden, kommt es maßgeblich auf solche Mitglieder an, die – innerhalb der reklamierten Zuständigkeit der Koalition – im Arbeitsleben stehen (Rn. 70).
15. Bestehen Zweifel an der hinreichenden, mitgliedervermittelten Durchsetzungsmacht einer Arbeitnehmerkoalition, kann diese ausnahmsweise auch durch deren dauerhafte und langjährige – über mehrere Jahrzehnte in der Vergangenheit erfolgte – Teilnahme am Tarifgeschehen indiziert sein. Dies setzt jedoch voraus, dass es sich bei den geschlossenen Tarifverträgen in nennenswerter Zahl um solche in einem von der Arbeitnehmerkoalition – jedenfalls im Wesentlichen – damals und nach wie vor beanspruchten Zuständigkeitsbereich handelt (Rn. 72 ff., 78).
16. Besitzt eine Arbeitnehmervereinigung hingegen keine mitgliederbezogene Durchsetzungskraft in zumindest einem relevanten Teilbereich ihrer Zuständigkeit, können auch mit dem sozialen Gegenspieler geschlossene Vereinbarungen nicht belegen, dass sie über die für eine Tariffähigkeit erforderliche soziale Mächtigkeit verfügt (Rn. 77).
17. Tarifabschlüsse, die eine nicht über eine ausreichende mitgliedervermittelte Organisationsstärke verfügende Arbeitnehmerkoalition nach Einleitung eines Verfahrens zur Feststellung ihrer Tariffähigkeit iSv. § 97 ArbGG erzielt, vermögen keine ausschlaggebende Indizwirkung für deren soziale Mächtigkeit zu entfalten (Rn. 78).
18. Die DHV – Die Berufsgewerkschaft e. V. ist seit dem 21. April 2015 tarifunfähig, da sie – bezogen auf den mit ihrer zu diesem Zeitpunkt geltenden Satzung reklamierten Organisationsbereich – nicht über die erforderliche Durchsetzungsfähigkeit verfügt (Rn. 47 ff.).
(Orientierungssätze)