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BAG: Auslegung einer arbeitsvertraglichen Bezugnahmeklausel

– Ablösungs- oder Verdrängungswirkung von Tarifverträgen – Günstigkeitsvergleich zwischen unmittelbar zwingendem Tarifvertrag und arbeitsvertraglich in Bezug genommenen Tarifbestimmungen

BAG, Urteil vom 12.6.2024 – 4 AZR 202/23

1. Stellt eine arbeitsvertragliche Bezugnahmeklausel auf eine bestimmte Branche ab, handelt es sich hierbei in der Regel um eine Bezugnahme auf die entsprechenden Flächentarifverträge (Rn. 24).

2. Enthält ein Arbeitsvertrag eine Bezugnahme auf bestimmte Flächentarifverträge, führt allein der Umstand, dass ein unternehmensbezogener Verbandstarifvertrag von denselben Tarifvertragsparteien vereinbart wurde, nicht dazu, dass auch dieser von der Verweisung erfasst ist. Soll das für den Arbeitgeber jeweils geltende Tarifrecht individualvertraglich zur Anwendung kommen, müssen die Arbeitsvertragsparteien dies in der Bezugnahmeklausel eindeutig zum Ausdruck bringen (Rn. 26, 32).

3. Eine vor dem 1. Januar 2002 mit einem tarifgebundenen Arbeitgeber vereinbarte zeitdynamische Bezugnahmeklausel ist aus Gründen des Vertrauensschutzes als sog. Gleichstellungsabrede auszulegen. Folge hiervon ist allerdings lediglich, dass über den Wortlaut hinaus eine auflösende Bedingung angenommen wird, die Dynamik solle entfallen, wenn die arbeitgeberseitige Tarifgebundenheit endet. Die Abrede führt je-doch nicht dazu, dass nicht tarifgebundene Arbeitnehmer individualvertraglich in jeder Hinsicht wie Mitglieder der tarifschließenden Gewerkschaft zu behandeln sind (Rn. 31).

4. Schließen die Parteien eines Verbandstarifvertrags einen unternehmensbezogenen Tarifvertrag, kann – vorbehaltlich einer abweichenden Regelung – nicht angenommen werden, hierdurch solle der Verbandstarifvertrag – ganz oder teilweise – abgelöst wer-den. Die Bestimmungen des unternehmensbezogenen Tarifvertrags kommen nach den Grundsätzen des Spezialitätsprinzips zur Anwendung (Rn. 38).

5. Die Kollision zwischen kraft beiderseitiger Tarifgebundenheit für ein Arbeitsverhältnis normativ geltender und aufgrund arbeitsvertraglicher Bezugnahme anwendbarer Tarifvorschriften ist nach dem sich aus § 4 Abs. 3 TVG ergebenden Günstigkeitsprinzip zu lösen. Ob ein Arbeitsvertrag abweichende günstigere Regelungen gegenüber dem Tarifvertrag enthält, ergibt sich aus einem Vergleich der durch Auslegung zu ermittelnden, in einem inneren Zusammenhang stehenden Teilkomplexe der unterschiedlichen Regelungen (sog. Sachgruppenvergleich) (Rn. 41 f.).

6. Werden Ansprüche jeweils auf den gleichen Grundtatbestand gestützt, kann eine einmalige Geltendmachung eine einstufige tarifliche Ausschlussfrist auch dann für später entstehende Ansprüche wahren, wenn dies nicht ausdrücklich in der Norm vor-gesehen ist. Entscheidend ist, dass bereits die erstmalige Forderung den Zweck der Ausschlussfrist erfüllt, dem Schuldner zeitnah Gewissheit darüber zu verschaffen, welche Ansprüche gegen ihn gerichtet werden (Rn. 56).

(Orientierungssätze)