BGH, Urteil vom 29.5.2024 – I ZR 43/23
Der unter anderem für das Wettbewerbsrecht zuständige I. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat entschieden, dass die Verpackung eines Produkts in der Regel nicht in einem angemessenen Verhältnis zu der darin enthaltenen Füllmenge steht („Mogelpackung“) wenn sie nur zu etwa zwei Dritteln gefüllt ist.
Sachverhalt:
Die Klägerin ist ein Verbraucherschutzverband. Die Beklagte vertreibt Kosmetik- und Körperpflegeprodukte.
Die Beklagte bewarb auf ihrer Internetseite ein Herrenwaschgel in einer aus Kunststoff bestehenden Tube mit einer Füllmenge von 100 ml. In der Online-Werbung ist die Tube auf dem Verschlussdeckel stehend abgebildet. Sie ist im unteren Bereich des Verschlussdeckels transparent und gibt den Blick auf den orangefarbigen Inhalt frei. Der darüber befindliche, sich zum Falz der Tube stark verjüngende Bereich ist nicht durchsichtig, sondern silbern eingefärbt. Die Tube ist nur im durchsichtigen Bereich bis zum Beginn des oberen, nicht durchsichtigen Bereichs mit Waschgel befüllt.
Die Klägerin hält diese Werbung für unlauter, weil sie eine tatsächlich nicht gegebene nahezu vollständige Befüllung der Tube mit Waschgel suggeriere, und nimmt die Beklagte auf Unterlassung in Anspruch.
Bisheriger Prozessverlauf:
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung der Klägerin ist ohne Erfolg geblieben. Das Berufungsgericht war der Auffassung, dass die Verpackung zwar dann entgegen § 3a UWG in Verbindung mit § 43 Abs. 2 MessEG ihrer Gestaltung und Befüllung nach eine größere Füllmenge als vorhanden vortäusche, wenn der Verbraucher sie im Rahmen des Erwerbs im Laden in Originalgröße wahrnehme. Im Falle des hier vorliegenden Online-Vertriebs fehle es jedoch an der Spürbarkeit eines Verstoßes gegen § 43 Abs. 2 MessEG, weil dem Verbraucher die konkrete Größe der Produktverpackung im Zeitpunkt der Beschäftigung mit dem Angebot und dem Erwerb des Produkts verborgen bleibe. Auch eine Irreführung nach § 5 Abs. 1 und 2 Nr. 1 UWG unter dem Gesichtspunkt der Täuschung über den Hohlraum in der Verpackung liege nicht vor.
Mit ihrer vom Bundesgerichtshof zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihren Unterlassungsanspruch weiter.
Entscheidung des Bundesgerichtshofs:
Die Revision hat Erfolg. Der geltend gemachte Unterlassungsanspruch gemäß § 8 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 Nr. 3, § 3 Abs. 1, § 3a UWG in Verbindung mit § 43 Abs. 2 MessEG kann mit der vom Berufungsgericht gegebenen Begründung nicht verneint werden. Insbesondere täuscht die beanstandete Produktgestaltung entgegen § 43 Abs. 2 MessEG ihrer Gestaltung und Befüllung nach eine größere Füllmenge vor, als in ihr enthalten ist. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts liegt auch eine spürbare Interessenbeeinträchtigung vor. Der für diese Frage entscheidende Schutzzweck des § 43 Abs. 2 MessEG besteht darin, den Verkehr vor Fehlannahmen über die relative Füllmenge einer Fertigpackung („Mogelpackung“) zu schützen. Dieser Schutzzweck ist unabhängig vom Vertriebsweg stets betroffen, wenn – wie im Streitfall – eine Fertigpackung ihrer Gestaltung und Befüllung nach in relevanter Weise über ihre relative Füllmenge täuscht.
Der Bundesgerichtshof hat in der Sache selbst entschieden und die Beklagte zur Unterlassung gemäß § 8 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 Nr. 3, § 3 Abs. 1 und 2, § 5 Abs. 1 und 2 Nr. 1 UWG verurteilt.
Der Senat konnte dahinstehen lassen, ob die übrigen Voraussetzungen des § 43 Abs. 2 MessEG erfüllt sind, insbesondere, ob die Werbung für ein Produkt oder das bloße Angebot unter den Begriff der Bereitstellung auf dem Markt im Sinne des § 2 Nr. 1 MessEG fällt. Denn soweit – wie hier – Handlungen von Unternehmen gegenüber Verbrauchern betroffen sind, kommt die Vorschrift des § 43 Abs. 2 MessEG aufgrund der vollharmonisierenden Wirkung von Art. 3 und 4 der Richtlinie 2005/29/EG über unlautere Geschäftspraktiken nicht zur Anwendung, und die Beurteilung der Irreführung über die relative Füllmenge einer Fertigpackung hat alleine nach § 5 UWG zu erfolgen.
Die beanstandete Internetwerbung für das Waschgel verstößt gegen § 5 Abs. 1 und 2 Nr. 1 UWG. Eine wettbewerblich relevante Irreführung über die relative Füllmenge einer Fertigpackung liegt unabhängig von dem konkret beanstandeten Werbemedium grundsätzlich vor, wenn die Verpackung eines Produkts nicht in einem angemessenen Verhältnis zu der darin enthaltenen Füllmenge steht. Dies ist hier der Fall, da die Waschgel-Tube nur zu etwa zwei Dritteln gefüllt ist und weder die Aufmachung der Verpackung das Vortäuschen einer größeren Füllmenge zuverlässig verhindert noch die gegebene Füllmenge auf technischen Erfordernissen beruht.
Vorinstanzen:
LG Düsseldorf – Urteil vom 30. November 2021 – 37 O 42/20
OLG Düsseldorf – Urteil vom 23. März 2023 – 20 U 176/21
Die maßgeblichen Vorschriften lauten:
§ 43 Abs. 2 Mess- und Eichgesetz (MessEG)
Es ist verboten, Fertigpackungen herzustellen, herstellen zu lassen, in den Geltungsbereich dieses Gesetzes zu verbringen, in Verkehr zu bringen oder sonst auf dem Markt bereitzustellen, wenn sie ihrer Gestaltung und Befüllung nach eine größere Füllmenge vortäuschen als in ihnen enthalten ist.
§ 3a Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG)
Unlauter handelt, wer einer gesetzlichen Vorschrift zuwiderhandelt, die auch dazu bestimmt ist, im Interesse der Marktteilnehmer das Marktverhalten zu regeln, und der Verstoß geeignet ist, die Interessen von Verbrauchern, sonstigen Marktteilnehmern oder Mitbewerbern spürbar zu beeinträchtigen.
§ 5 UWG
(1) Unlauter handelt, wer eine irreführende geschäftliche Handlung vornimmt, die geeignet ist, den Verbraucher oder sonstigen Marktteilnehmer zu einer geschäftlichen Entscheidung zu veranlassen, die er andernfalls nicht getroffen hätte.
(2) Eine geschäftliche Handlung ist irreführend, wenn sie unwahre Angaben enthält oder sonstige zur Täuschung geeignete Angaben über folgende Umstände enthält:
1. die wesentlichen Merkmale der Ware oder Dienstleistung wie Verfügbarkeit, Art, Ausführung, Vorteile, Risiken, Zusammensetzung, Zubehör, Verfahren oder Zeitpunkt der Herstellung, Lieferung oder Erbringung, Zwecktauglichkeit, Verwendungsmöglichkeit, Menge, Beschaffenheit, Kundendienst und Beschwerdeverfahren, geographische oder betriebliche Herkunft, von der Verwendung zu erwartende Ergebnisse oder die Ergebnisse oder wesentlichen Bestandteile von Tests der Waren oder Dienstleistungen; (…)
Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2005/29/EG über unlautere Geschäftspraktiken
Diese Richtlinie gilt für unlautere Geschäftspraktiken im Sinne des Artikels 5 zwischen Unternehmen und Verbrauchern vor, während und nach Abschluss eines auf ein Produkt bezogenen Handelsgeschäfts.
Art. 4 der Richtlinie 2005/29/EG
Die Mitgliedstaaten dürfen den freien Dienstleistungsverkehr und den freien Warenverkehr nicht aus Gründen, die mit dem durch diese Richtlinie angeglichenen Bereich zusammenhängen, einschränken.
Art. 5 Abs. 4 der Richtlinie 2005/29/EG
Unlautere Geschäftspraktiken sind insbesondere solche, die a) irreführend im Sinne der Artikel 6 und 7 (…) sind.
Karlsruhe, den 29. Mai 2024