Berlin: (hib/VOM) Mit der gesetzlichen Umsetzung einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 14. Mai 2019 zur künftigen Erfassung der Arbeitszeiten von Beschäftigten hat sich der Ausschuss für Arbeit und Soziales am Montag in einer öffentlichen Anhörung befasst. Den Sachverständigen lagen dazu Anträge der Unionsfraktion (20/6909) und der Linksfraktion (20/1852) vor. Die Stellungnahmen der Sachverständigen reichten dabei von einer möglichst detaillierten bis hin zu einer möglichst flexiblen gesetzlichen Neuregelung des Arbeitszeitgesetzes.
In seinem Urteil hatte der EuGH festgehalten, dass die EU-Mitgliedstaaten die Arbeitgeber verpflichten müssen, ein System einzuführen, mit dem die geleistete Arbeitszeit erfasst werden kann. Auf dieser Grundlage hatte das Bundesarbeitsgericht (BAG) am 13. September 2022 festgestellt, dass die Arbeitgeber ein System einführen und anwenden müssen, mit dem Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeiten einschließlich der Überstunden erfasst werden. Während die Vertreter der Arbeitgeberverbände in der Anhörung entsprechend dem Unionsantrag die Notwendigkeit von Spielräumen und Flexibilität betonten, trat der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) wie der Antrag der Linken für die taggenaue Aufzeichnung von Arbeitszeit und Ruhepausen ein.
Eine große Rolle spielte dabei der gesetzlich nicht definierte Begriff der Vertrauensarbeitszeit. Aus Sicht von Isabel Eder vom DGB ist diese in der Vergangenheit nur „pervertiert“ angewendet worden, die Beschäftigten seien mit einer Menge an zu bewältigenden Aufgaben alleingelassen worden. Insofern gebe es keinen Regelungsbedarf. Eine enge Auslegung des BAG-Urteils wäre nach Ansicht des DGB wünschenswert. Im Übrigen gebe es bereits jetzt genügend Flexibilisierungsmöglichkeiten im Arbeitszeitgesetz. Der DGB plädierte für die Beibehaltung des Achtstundentages, der von erheblicher Bedeutung für den Arbeits- und Gesundheitsschutz sei. Er sprach sich ferner für eine Begrenzung der täglichen Höchstarbeitszeit aus.
Unterstützt wurde diese Position von Nils Backhaus von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, der darauf hinwies, dass 80 Prozent der Beschäftigten ihre Arbeitszeit bereits erfassten. Diese verfügten über mehr zeitliche Spielräume als jene, die dies nicht tun. Einfluss auf die Arbeitszeit zu haben, wirke sich aus Sicht des Arbeitsschutzes positiv aus, sagte Backhaus. Lange Arbeitszeiten könnten hingegen zu psychosomatischen Beschwerden führen bis hin zu Depressionen und Angststörungen, Stoffwechselerkrankungen oder Erschöpfungszuständen. Schicht-, Nacht- und Wochenendarbeit seien ungüstig, weil sie sozial wertvolle Zeit blockierten, Schichtarbeit könne gar das Krebsrisiko erhöhen.
Dagegen unterstrich Roland Wolf von der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), dass der Erhalt der Vertrauensarbeitszeit ein wichtiges Element der betrieblichen Praxis sei. Wolf schlug vor, die Höchstarbeitszeit auf die Woche zu verteilen. Das BAG habe die Vertrauensarbeitszeit bestätigt, deshalb sollte aus seiner Sicht daran festgehalten und nicht in Arbeitsverträge eingegriffen werden. Nach seiner Interpretation des EuGH-Urteils muss der Arbeitgeber nur ermöglichen, dass die Arbeitszeit erfasst werden kann. Er sei aber nicht verpflichtet, diese selbst zu erfassen.
Oliver Zander vom Gesamtverband der Arbeitgeberverbände der Elektro- und Metall-Industrie (Gesamtmetall) wies darauf hin, dass mehrere Berufsgruppen bereits artikuliert hätten, nicht in die Arbeitszeiterfassung einbezogen werden zu wollen: die Richter, die Wissenschaft, die Anwaltskanzleien, die Lehrer. Auch die Arbeitnehmer mit Vertrauensarbeitszeit wollten ausgenommen werden. In der Vertrauensarbeitszeit gebe es einen guten Ausgleich, sagte Zander mit Blick auf die Forderung der Linken nach „minutengenauer“ Arbeitszeit-Aufzeichnung. Daran hätten die Arbeitnehmer kein Interesse. Zander ermunterte die Koalition, „Vertrauensarbeitszeit wieder zu ermöglichen“. Andernfalls würde eine „gute, eingeübte Kultur verschüttet“. Aus seiner Sicht würde das EuGH-Urteil eine „Vereinbarungslösung“ ermöglichen.
Jan Dannenbring vom Zentralverband des Deutschen Handwerks (ZdH) betonte den Grundsatz der Formfreiheit, die Arbeitszeiterfassung müsse flexibel gehandhabt werden können. Im Baugewerbe gebe es Arbeitsplätze, die der elektronischen Zeiterfassung Grenzen setzen, etwa bei wechselnden Einsatzorten. Viele kleinere Unternehmen würden dadurch überfordert. Dannenbring plädierte für die Tarifbindung, um in Tarifverträgen flexible Regelungen zu bekommen. Aus seiner Sicht wäre es wünschenswert, wenn der Gesetzgeber Tarif-Öffnungsklauseln ermöglichen würde.
Für eine flexible Arbeitszeiterfassung machte sich auch Wolfgang Molitor vom Bundesinnungsverband des Gebäudereiniger-Handwerks stark. Eine Wochen-Erfassung der Arbeitszeit hielt er für richtig. Eine taggenaue elektronische Zeiterfassung sei nicht überall möglich, weil verschiedene Dienstleistungen an verschiedenen Orten erbracht werden müssten. Auch seien viele Beschäftigte skeptisch gegenüber dieser Art der Arbeitszeiterfassung.
Unterschiedliche Sichtweisen gab es auch bei den Jura-Professoren. Gregor Thüsing von der Universität Bonn sprach sich für tarifliche Öffnungsklauseln aus. Der EU-Gesetzgeber gehe von einer Wochen-Höchstarbeitszeit von 48 Stunden aus, kombiniert mit Ruhezeiten sei dies ein genügender Schutz. Die Regierung sollte sich daran orientieren, so Thüsing, „mehr Freiheit“ zu wagen.
Christiane Brors von der Universität Oldenburg sagte, auf Dauer länger als acht Stunden pro Tag zu arbeiten, sei ungesund. Mobiles Arbeiten führe zur Entgrenzung von Arbeit und Freizeit. Die Zunahme von psychischen Erkrankungen zeige, dass ein modernes Arbeitsrecht Begrenzungen brauche. Gebraucht werde auch eine manipulationssichere Arbeitszeiterfassung. Aus ihrer Sicht wird es auf eine taggenaue Aufzeichnungspflicht, die zu Kontrollzwecken auch digital sein sollte, hinauslaufen.
Thomas Klein von der Hochschule für Technik und Wirtschaft des Saarlandes ging auf die Vertrauensarbeitszeit ein, von der nicht klar sei, „was es ist“. Wenn damit gemeint sei, dass die Beschäftigten ihre Arbeitszeit selbst festlegen, dann wäre dies nach dem EuGH-Urteil weiterhin möglich. Die Höchstarbeitszeiten dürften jedoch nicht überschritten werden. Klein trat für eine „Modifizierung der Beweislast“ im Hinblick auf den Nachweis von Arbeitszeit ein und monierte, dass Verstöße gegen die Aufzeichnungspflicht kein Bußgeld für den Arbeitgeber zur Folge hätten.
Frank Bayreuther von der Universität Passau plädierte für eine klare gesetzliche Vorgabe, dass eine Behörde bei Verstößen ein Bußgeld verlangen kann. Er widersprach auch der Ansicht, der Arbeitgeber könne selbst entscheiden, ob er von der Arbeitszeiterfassung Gebrauch machen wolle oder nicht.
Das Video zur Anhörung sowie die Stellungnahmen der Sachverständigen auf bundestag.de: https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2023/kw41-pa-arbeit-zeitkonto-969674
(Deutscher Bundestag, hib 725/2023 v. 10.10.2023)
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