BAG, Urteil vom 25. April 2023 – 9 AZR 253/22
ECLI:DE:BAG:2023:250423.U.9AZR253.22.0
1. Kommt eine aufgrund Vereinsmitgliedschaft und zur Förderung des Ver[1]einszwecks zu erbringende fremdbestimmte, weisungsgebundene Tätig[1]keit ihrer Verbindlichkeit nach einer arbeitsvertraglichen Pflicht gleich, ist jedenfalls dann zwingend von einem Arbeitsverhältnis auszugehen, wenn die beschäftigte Person nicht aufgrund ihrer Arbeitsleistung ähnlich einem Arbeitnehmer sozial geschützt ist. Als unabdingbarer Mindestschutz auf Entgeltebene ist dabei der gesetzliche Mindestlohn zu garantieren.
2. Eine spirituelle Gemeinschaft, die nicht auf einem Mindestmaß an Sys[1]tembildung und Weltdeutung beruht, ist weder aufgrund des durch Art. 140 GG iVm. Art. 137 Abs. 3 WRV garantierten Selbstbestimmungsrechts noch aufgrund der der korporativen Religionsfreiheit des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG berechtigt, sich eine innere Ordnung zu schaffen, nach deren Maßgabe ausschließlich vom Gemeinschaftszweck geprägte Dienste nicht dem staatlichen Arbeitsrecht unterworfen sind.
(Amtliche Leitsätze)
1. Die Parteien können den Vertragstyp einer privatrechtlichen Vereinbarung über die Erbringung von Dienst- bzw. Arbeitsleistungen nicht frei festlegen. Sie sind an die zwingenden Vorgaben des § 611a Abs. 1 BGB gebunden (Rn. 22).
2. Die Abgrenzung des Arbeitsverhältnisses von anderen Vertragsverhältnissen ist nach § 611a Abs. 1 Satz 5 BGB anhand einer wertenden Gesamtbetrachtung unter Berücksichtigung der Besonderheiten des Einzelfalls vorzunehmen. Dabei sind neben der Würdigung tatsächlicher Umstände auch die Besonderheiten oder Eigenarten einer Tätigkeit in Branchen und Bereichen mit besonderen verfassungsrechtlichen Garantien zu berücksichtigen. Diese können den Grundrechtsträgern bei der Festlegung des Vertragstyps einen größeren rechtlichen Spielraum eröffnen (Rn. 23).
3. Kommt eine aufgrund Vereinsmitgliedschaft und zur Förderung des Vereinszwecks zu erbringende fremdbestimmte, weisungsgebundene Tätigkeit ihrer Verbindlichkeit nach einer arbeitsvertraglichen Pflicht gleich, ist jedenfalls dann zwingend von einem Arbeitsverhältnis auszugehen, wenn die beschäftigte Person nicht aufgrund ihrer Arbeitsleistung ähnlich einem Arbeitnehmer sozial geschützt ist. Als unabdingbarer Mindestschutz auf Entgeltebene ist dabei der gesetzliche Mindestlohn zu garantieren (Rn. 33, 35 f.).
4. Die verfassungsrechtlichen Gewährleistungen aus Art. 140 GG iVm. Art. 137 Abs. 3 WRV und Art. 4 Abs. 1 und 2 GG eröffnen einer Religionsgemeinschaft die Möglichkeit, ihre Mitglieder nicht als Arbeitnehmer zu beschäftigen, obwohl sie weisungsgebundene Arbeit in persönlicher Abhängigkeit verrichten, wenn der Dienst ausschließlich von religiösem Bekenntnis geprägt ist. Entsprechendes gilt für Weltanschauungsgemeinschaften (Rn. 40 ff.).
5. Unter Religion oder Weltanschauung ist eine mit der Person des Menschen verbundene Gewissheit über bestimmte Aussagen zum Weltganzen sowie zur Herkunft und zum Ziel des menschlichen Lebens zu verstehen. Die Religion legt eine den Menschen überschreitende und umgreifende („transzendente“) Wirklichkeit zugrunde, während sich die Weltanschauung auf innerweltliche („immanente“) Bezüge beschränkt. Für die Annahme einer Religion oder Weltanschauung ist neben den transzendenten bzw. immanenten Bezügen auch ein Mindestmaß an Systembildung und Weltdeutung notwendig (Rn. 44).
6. Religionsgesellschaften iSv. Art. 137 WRV, die mit dem im Grundgesetz ebenfalls verwendeten Begriff der Religionsgemeinschaft (Art. 7 Abs. 3 Satz 2 GG) identisch sind, sind Verbände mit dem Zweck, gemeinsam religiöse Überzeugung zu betätigen.
Der Zusammenschluss muss auf eine umfassende Überzeugung des ihn prägenden religiösen Konsenses durch ein Bekenntnis nach außen abzielen und die umfassende Erfüllung aller religiös motivierten Aufgaben, die er stellt, anstreben (Rn. 45).
7. Eine spirituelle Gemeinschaft, die – wie der Beklagte – nicht auf einem Mindestmaß an Systembildung und Weltdeutung beruht, ist weder aufgrund des durch Art. 140 GG iVm. Art. 137 Abs. 3 WRV garantierten Selbstbestimmungsrechts noch aufgrund des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG berechtigt, sich eine innere Ordnung zu schaffen, nach deren Maßgabe ausschließlich vom Gemeinschaftszweck geprägte Dienste nicht dem staatlichen Arbeitsrecht unterworfen sind (Rn. 46 ff.).
(Orientierungssätze)