BAG: Beschluss vom 25. Januar 2023 – 4 ABR 4/22
1. In einem tarifpluralen Betrieb kann die Geltung des § 4a TVG nicht nur durch eine Vereinbarung aller von der Tarifkollision erfassten Tarifvertragsparteien abbedungen werden, sondern auch dadurch, dass der tarifschließende Arbeitgeberverband mit den jeweiligen Gewerkschaften entsprechende Vereinbarungen trifft.
2. Der Vorrang tariflicher Regelungen nach § 77 Abs. 3 Satz 1 TVG entfällt in einem tarifpluralen Betrieb nur dann, wenn alle Tarifverträge, die diese Sperrwirkung auslösen, eine entsprechende Öffnungsklausel iSv. Satz 2 der Vorschrift enthalten. Der Tarifvorbehalt in § 87 Abs. 1 Eingangshalbs. BetrVG für das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats in sozialen Angelegenheiten wird in einem solchen Betrieb durch jede zwingende tarifliche Regelung für alle Arbeitnehmer ausgelöst.
(Amtliche Leitsätze)
1. Eine Gewerkschaft kann vom Arbeitgeber nach § 1004 Abs. 1, § 823 Abs. 1 BGB iVm. Art. 9 Abs. 3 GG die Unterlassung der Durchführung tarifwidriger Betriebsvereinbarungen verlangen. Der Anspruch entfällt, wenn die Tarifgebundenheit der Arbeitgeberin an die Tarifverträge infolge deren Ablösung endet. Das ist vom Gericht von Amts wegen zu berücksichtigen (Rn. 30 ff.).
2. Der Ausschluss des tarifdispositiven § 4a TVG setzt eine Vereinbarung aller im Betrieb kollidierend tarifierenden Gewerkschaften und des Arbeitgebers oder – im Fall des Verbandstarifvertrags – des Arbeitgeberverbands voraus. Dazu bedarf es nicht zwingend eines einheitlichen Vertragsschlusses. § 4a TVG kann auch dadurch abbedungen werden, dass der Arbeitgeber oder der Arbeitgeberverband mit jeder Gewerkschaft entsprechende Vereinbarungen trifft (Rn. 50 f.).
3. Nach § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG können Arbeitsentgelte und sonstige Arbeitsbedingungen, die durch Tarifvertrag geregelt sind oder üblicherweise geregelt werden, nicht Gegenstand einer Betriebsvereinbarung sein. Das gilt nach § 77 Abs. 3 Satz 2 BetrVG nicht, wenn ein Tarifvertrag den Abschluss ergänzender Betriebsvereinbarungen ausdrücklich zulässt. In einem tarifpluralen Betrieb bleibt die Sperrwirkung bestehen, wenn nicht alle Tarifverträge entsprechende Öffnungsklauseln enthalten (Rn. 42, 55 ff.).
4. Die Regelungssperre des § 77 Abs. 3 BetrVG greift bei sozialen Angelegenheiten iSv. § 87 Abs. 1 BetrVG ein, soweit das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats aufgrund des Tarifvorbehalts in § 87 Abs. 1 Eingangshalbs. BetrVG ausgeschlossen ist. Eine abschließende tarifliche Regelung, an die der Arbeitgeber gebunden ist, verdrängt das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats insgesamt und nicht nur für die Arbeitnehmer, die an diesen Tarifvertrag normativ gebunden sind. Das gilt auch in einem tarifpluralen Betrieb, in dem § 4a TVG abbedungen ist. Dort wird das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats durch eine abschließende tarifliche Regelung nicht nur hinsichtlich der Arbeitnehmer, die an diesen Tarifvertrag gebunden sind, sondern auch in Bezug auf nicht oder anderweitig tarifgebundene Arbeitnehmer verdrängt (Rn. 43, 64 ff.).
(Orientierungssätze)