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EuGH: Die Möglichkeit, die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls abzulehnen, damit die Strafe im Wohnsitzmitgliedstaat vollstreckt wird, muss auch für Drittstaatsangehörige gelten

EuGH, Urteil vom 6.6.2023 – Rs. C‑700/21; O. G., Beteiligter: Presidente del Consiglio dei Ministri,

ECLI:EU:C:2023:444

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:

1.      Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten ist in Verbindung mit dem in Art. 20 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankerten Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz wie folgt auszulegen: Diese Bestimmung steht einer Regelung eines Mitgliedstaats zur Umsetzung von Art. 4 Nr. 6 dieses Rahmenbeschlusses entgegen, die jeden Drittstaatsangehörigen, der sich im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats aufhält oder dort seinen Wohnsitz hat, absolut und automatisch von der Anwendung des in dieser Bestimmung vorgesehenen fakultativen Grundes für die Nichtvollstreckung des Europäischen Haftbefehls ausschließt, ohne dass die vollstreckende Justizbehörde die Bindungen des Drittstaatsangehörigen zu diesem Mitgliedstaat beurteilen kann.

2.      Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 ist wie folgt auszulegen: Die vollstreckende Justizbehörde hat für die Beurteilung, ob die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls, der gegen einen Drittstaatsangehörigen ausgestellt wurde, der sich im Hoheitsgebiet des Vollstreckungsmitgliedstaats aufhält oder dort seinen Wohnsitz hat, abzulehnen ist, in einer Gesamtschau alle konkreten Faktoren zu würdigen, die darauf hinweisen können, dass zwischen ihm und dem Vollstreckungsmitgliedstaat Bindungen bestehen, die belegen, dass er hinreichend in diesen Staat integriert ist und dass daher die Vollstreckung der im Ausstellungsmitgliedstaat gegen ihn verhängten Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung im Vollstreckungsmitgliedstaat zur Erhöhung seiner Resozialisierungschancen nach Vollstreckung der Strafe oder freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung beitragen wird. Zu diesen Faktoren gehören die familiären, sprachlichen, kulturellen, sozialen oder wirtschaftlichen Bindungen des Drittstaatsangehörigen zum Vollstreckungsmitgliedstaat sowie Art, Dauer und Bedingungen seines Aufenthalts in diesem Mitgliedstaat.

(Tenor)