Dem internationalen Trend folgend haben Polen und Ungarn direkte Unternehmenssteuern eingeführt, die nicht nach dem Gewinn, sondern nach dem Umsatz berechnet werden und progressiv ausgestaltet sind. Diese treffen vor allem Unternehmen mit hohen Umsätzen, also große Unternehmen.
Polen erließ am 6.7.2016 das Gesetz über die Einzelhandelssteuer, das am 1.9.2016 in Kraft trat. Danach mussten Einzelhändler auf ihren monatlichen Umsatz aus dem Verkauf von Waren an Verbraucher, soweit er 17 Mio. polnische Złoty (PLN; ungefähr 4 Mio. Euro) übersteigt, eine Steuer in Höhe von 0,8 % für die Umsatzstufe zwischen 17 und 170 Mio. PLN und in Höhe von 1,4 % für den darüber liegenden Teil zahlen.
Ungarn erließ am 11.6.2014 das Gesetz über die Werbesteuer, wonach Herausgeber von Werbung (Zeitungen, audiovisuelle Medien, Anzeigendienste) auf den Jahresnettoumsatz, den sie in Ungarn mit der Verbreitung von Werbung erzielen, eine progressiv gestaffelte Steuer zahlen mussten (sechs Steuersätze zwischen 0 % und 50 %). Diese Steuersätze wurden nachträglich durch nur zwei Steuersätze, nämlich 0 % für den Teil der Bemessungsgrundlage unter 100 Mio. HUF (rd. 312 000 Euro) und 5,3 % für den darüber liegenden Teil, ersetzt. Für das erste Steuerjahr sah das Gesetz übergangsweise eine anteilige Berücksichtigung eventueller Verluste aus dem vorangegangenen Jahr vor.
Mit Beschluss vom 30.6.2017 und vom 4.11.2016 erklärte die Kommission beide Steuern für unvereinbar mit dem Gemeinsamen Markt, da sie den „zu niedrig besteuerten“ kleineren Unternehmen einen unzulässigen Vorteil einräumten und damit eine Beihilfe darstellten.
Polen und Ungarn haben die Beschlüsse der Kommission vor dem Gericht der EU angefochten.
Mit Urteilen vom 16.5.2019 bzw. vom 27.6.2019 gab das Gericht den Klagen statt und erklärte die Kommissionsbeschlüsse für nichtig, da es in den beiden Steuerregelungen keine selektiven Vorteile und somit staatliche Beihilfen zugunsten umsatzschwächerer Unternehmen erkennen konnte. Die Kommission hat gegen diese beiden Urteile des Gerichts Rechtsmittel beim Gerichtshof eingelegt.
In ihren Schlussanträgen von heute schlägt Generalanwältin Juliane Kokott dem Gerichtshof vor, die Rechtsmittel der Kommission zurückzuweisen und die Urteile des Gerichts zu bestätigen.
Sie verweist auf die erst kürzlich im Rahmen der Grundfreiheiten ergangene Rechtsprechung des Gerichtshofs, wonach eine nach dem Umsatz bemessene progressive Besteuerung möglich sei, da die Höhe des Umsatzes zum einen ein neutrales Unterscheidungskriterium darstelle und zum anderen ein relevanterIndikator für die Leistungsfähigkeit der Steuerpflichtigen sei.
Ähnliches müsse für das Beihilferecht gelten. Mangels einer einschlägigen Unionsregelung falle die Bestimmung der Bemessungsgrundlage und die Verteilung der Steuerbelastung auf die unterschiedlichen Produktionsfaktoren und Wirtschaftssektoren in die Steuerhoheit der Mitgliedstaaten. Im Grundsatz könne erst eine Ausnahme von diesem autonom gestalteten Steuersystem am Beihilferecht gemessen werden, nicht aber die Schaffung des Steuersystems selbst.
Aus dem Unionsrecht könne keine „normale“ Besteuerung abgeleitet werden. Ausgangspunkt könne daher immer nur die Entscheidung des jeweiligen nationalen Gesetzgebers sein, was er als die normale Besteuerung ansehe. In den vorliegenden Fällen sei dies eine progressiv ausgestaltete Ertragsteuer für Einzelhandelsunternehmen bzw. Herausgeber von Werbung, die für die Bemessungsgrundlage auf den Umsatz abstelle.
Ein allgemein geltendes Steuergesetz – welches wie hier den Referenzrahmen gerade erst schaffe – könne daher nur eine Beihilfe darstellen, wenn es offensichtlich inkohärent ausgestaltet wurde. Eine solche Inkohärenz der polnischen Einzelhandelssteuer bzw. der ungarischen Werbesteuer habe das Gericht im Ergebnis zu Recht verneint.
Eine umsatzbasierte Ertragsbesteuerung habe – wie auch eine gewinnbasierte Ertragsbesteuerung – ihre Vor- und Nachteile. Diese habe aber nicht eine Behörde oder ein Gericht, sondern ein demokratisch legitimierter Gesetzgeber abzuwägen und zu verantworten. Der Steuergesetzgeber (hier der polnische bzw. der ungarische Gesetzgeber) könne entscheiden, welche Steuer seiner Ansicht nach die geeignete ist. Das Beihilferecht verlange jedenfalls nicht die Einführung der aus Sicht der Kommission geeignetsten Steuer.
Weltweit seien umsatzbasierte Ertragsteuern auf dem Vormarsch, wie auch die von der Kommission vorgeschlagene Digitalsteuer zeige. Diese knüpfe zur Besteuerung von Unternehmen auch an deren Jahresumsatz an. Insofern würden sich die polnische Einzelhandelssteuer bzw. die ungarische Werbesteuer und die geplante EU-Digitalsteuer nicht unterscheiden.
Auch ein progressiver Tarif als solcher stelle keine Inkohärenz dar. So seien progressive Tarife bei der Ertragsbesteuerung durchaus üblich, um eine Besteuerung gemäß der finanziellen Leistungsfähigkeit zu erreichen. Dies gelte sowohl für eine gewinnbasierte als auch für eine umsatzbasierte Ertragsbesteuerung. Zwar führen hohe Umsätze nicht zwingend zu großen Gewinnen; jedoch sind hohe Umsätze Voraussetzung für große Gewinne. Daher ist die Differenzierung nicht inkohärent.
Auch die von Ungarn eingeführte Berücksichtigung von ertragsteuerrechtlichen Verlusten im ersten Jahr der Werbesteuer stelle keine Beihilfe dar. Da die Tatsache des Vorliegens von Verlusten im Vorjahr ein objektives Kriterium sei und sich Unternehmen mit Verlusten und mit Gewinnen im Vorjahr im Hinblick auf die Fähigkeit, eine zusätzliche gewinnunabhängige Steuer tragen zu können, unterschieden, sei die Implementierung dieser Übergangsvorschrift ebenfalls nicht inkohärent.
(Quelle: EuGH, PM Nr. 132/20: GAin Kokott, Schlussanträge v. 15.10.2020 i.d. Rs. C-562/19 P Kommission/Polen und C-596/19 P Kommission/Ungarn)