Das BAG hat mit Beschluss vom 13.9.2022 – 1 ABR 22/21 – wie folgt entschieden:
1. Nach § 87 Abs. 1 Eingangshalbs. BetrVG besteht kein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats, wenn die betreffende Angelegenheit gesetzlich geregelt ist. Soweit das Gesetz dem Arbeitgeber eine bestimmte Verpflichtung bindend und abschließend auferlegt, ist kein Raum für ein Initiativrecht des Betriebsrats (Rn. 17 f.).
2. Aus Art. 31 Abs. 2 GRC ergibt sich nicht unmittelbar die Verpflichtung des Arbeitgebers, ein System einzuführen, mit dem Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeiten einschließlich der Überstunden im Betrieb erfasst werden (Rn. 20 ff.).
3. § 16 Abs. 2 Satz 1 ArbZG verpflichtet Arbeitgeber lediglich dazu, Arbeitszeiten aufzuzeichnen, die über die werktägliche Arbeitszeit hinausgehen. Eine – unionsrechtskonforme – Auslegung dieser Vorschrift dahin, dass Beginn und Ende der gesamten täglichen Arbeitszeiten aufzuzeichnen sind, verstieße gegen das nationale Recht (Rn. 27 ff.). Auch eine analoge Anwendung der Norm auf solche Arbeitszeiten scheidet aus (Rn. 38 ff.).
4. Eine Pflicht von Arbeitgebern, ein System einzuführen, mit dem Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit einschließlich der Überstunden erfasst werden, folgt – bei unionsrechtskonformer Auslegung – aus § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG (Rn. 42 ff.). Der Umstand, dass der Gesetzgeber eine solche Verpflichtung in § 16 Abs. 2 Satz 1 ArbZG nicht vorgesehen hat, steht einem solchen Normverständnis nicht entgegen (Rn. 51 ff.).
5. Die Pflicht des Arbeitgebers zur Erfassung der Arbeitszeiten bezieht sich auf diejenigen Arbeitnehmer, für die der nationale Gesetzgeber nicht auf der Grundlage von Art. 17 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG von Art. 3, 5 und 6 Buchst. b dieser Richtlinie abgewichen ist (Rn. 56).
6. Die unionsrechtlich vorgegebene Verpflichtung des Arbeitgebers, ein objektives, verlässliches und zugängliches System zur Messung von Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeiten einschließlich der Überstunden einzuführen, ist nicht zwingend auf eine elektronische Zeiterfassung gerichtet. Vielmehr können beispielsweise – je nach Tätigkeit und Unternehmen – Aufzeichnungen in Papierform genügen. Es ist auch nicht ausgeschlossen, die Aufzeichnung der betreffenden Zeiten an die Arbeitnehmer zu delegieren (Rn. 65).
7. Die bei der Erfüllung der Pflicht des Arbeitgebers zur Arbeitszeiterfassung nach § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG bestehenden Spielräume sind – solange und soweit der Gesetzgeber sie nicht ausgefüllt hat – von den Betriebsparteien oder einer Einigungsstelle im Rahmen der betrieblichen Mitbestimmung nach § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG durch entsprechende Regelungen auszugestalten (Rn. 66).
8. Das bei der Ausgestaltung eines Systems zur Arbeitszeiterfassung bestehende Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats nach § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG iVm. § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG umfasst grundsätzlich auch ein entsprechendes Initiativrecht. Macht der Betriebsrat dieses Initiativrecht geltend, kann er sein Begehren allerdings nicht auf eine Zeiterfassung in elektronischer Form beschränken. Mit einem solchen eingeschränkten Regelungsgegenstand könnte eine Einigungsstelle ihrem Gestaltungsauftrag ggf. nicht gerecht werden (Rn. 67 ff.).
(Orientierungssätze)