In den Schlussanträgen vom 13.10.2022 in der Rechtssache C-449/21 – Towercast – hat Generalanwältin Kokott die Ansicht vertreten, ein Unternehmenszusammenschluss, der keiner fusionskontrollrechtlichen Vorabprüfung unterlag, könne nachträglich anhand des primärrechtlichen Verbots des Missbrauchs einer beherrschenden Stellung überprüft werden. Sei ein Zusammenschluss hingegen fusionskontrollrechtlich genehmigt worden, sei eine weitere Überprüfung am Maßstab des Missbrauchsverbots grundsätzlich ausgeschlossen.
Die komplementäre Anwendung von Art. 102 AEUV sei geeignet, zum effektiven Schutz des Wettbewerbs im Binnenmarkt beizutragen, sofern wettbewerbsrechtlich problematische Zusammenschlüsse die fusionskontrollrechtlichen Schwellenwerte nicht erreichen und daher grundsätzlich keiner Vorabkontrolle unterliegen. In den vergangenen Jahren habe sich nämlich eine Schutzlücke in der wettbewerbsrechtlichen Erfassung und Kontrolle von Übernahmen innovativer Start-Up-Unternehmen, z.B. im Bereich der Internetdienste, der pharmazeutischen Industrie oder der Medizintechnik, manifestiert (sogenannte „killer acquisitions“). Dies betreffe Situationen, in denen etablierte und marktmächtige Unternehmen aufstrebende, aber noch wenig umsatzstarke Unternehmen, die auf demselben, benachbarten, vor- oder nachgelagerten Märkten tätig sind, in ihrem frühen Entwicklungsstadium übernehmen, um diese als Wettbewerber auszuschalten und die eigene Marktstellung zu konsolidieren. Um auch insoweit einen effektiven Schutz des Wettbewerbs zu gewährleisten, sollte es einer nationalen Wettbewerbsbehörde daher möglich sein, zumindest auf das „schwächere“ Instrument der repressiven nachträglichen Kontrolle nach Art. 102 AEUV zurückzugreifen, sofern dessen tatbestandliche Voraussetzungen erfüllt sind. Sollte diese Kontrolle zu dem Ergebnis kommen, dass ein Missbrauch der beherrschenden Stellung vorliegt, droht nach Ansicht der Generalanwältin in der Regel keine nachträgliche Rückabwicklung des Zusammenschlusses, sondern nur die Verhängung einer Geldbuße. Dies ergebe sich aus dem Vorrang verhaltensorientierter Abhilfemaßnahmen vor denjenigen struktureller Art sowie aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.
Sei hingegen ein Zusammenschluss nach den spezielleren Regeln der Fusionskontrolle genehmigt worden und wurden folglich seine Auswirkungen auf die Marktstruktur und die Wettbewerbsbedingungen für mit dem Binnenmarkt vereinbar erklärt, könne er als solcher nicht (mehr) als Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung im Sinne des Art. 102 AEUV qualifiziert werden, sofern nicht darüberhinausgehende Verhaltensweisen des betroffenen Unternehmens festzustellen sind, die diesen Tatbestand erfüllen könnten.
(PM EuGH Nr. 168/2022 vom 13.10.2022)