Das BVerfG hat mit Beschluss vom 8.7.2021 – 1 BvR 2237/14, 1 BvR 2422/17 – entschieden, dass die Verzinsung von Steuernachforderungen und Steuererstattungen in § 233a in Verbindung mit § 238 Abs. 1 Satz 1 der Abgabenordnung (im Folgenden: AO) verfassungswidrig ist, soweit der Zinsberechnung für Verzinsungszeiträume ab dem 1.1.2014 ein Zinssatz von monatlich 0.5% zugrunde gelegt wird. Die Finanzgerichte und der BFH äußerten lange Zeit keine Bedenken an der Verfassungsmäßigkeit der Höhe des Zinssatzes. Erstmals äußerte das FG Hamburg mit Urteil vom 23.5.2013 – 2 K 50/12 zwischen den Zeilen Zweifel ab dem Veranlagungszeitraum 2012. Die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung kam auch 2016 und 2017 noch zu dem Ergebnis, dass keinerlei Bedenken gegen die Höhe des Zinssatzes bestünden. Erst 2018 wendete sich das Blatt. Am 25.4.2018 äußerte erstmals der IX. Senat des BFH erhebliche Zweifel an der Höhe der Nachzahlungszinsen (BFHE 260, 431) für Zeiträume ab 2015. Der VIII. Senat trat mit Beschluss vom 4.7.2019 dem IX. Senat bei.
Der Zinssatz für Spareinlagen betrug im Jahr 2007 noch 2.3%, bröckelte über 1.8% 2009, 1.4% 2010, 1.3% 2012, 1% 2013, 0.5% 2015, 0.2% 2017 und 0.1% 2019. Mittlerweile sind sog. Negativzinsen an der Tagesordnung. Insoweit stand die Rechtsprechung ab 2017 auf tönernden Füßen. Denn bei einem Zinsvorteil von 0.2% einen nicht existierenden Vorteil über 6.5% abzuschöpfen verfassungsrechtlich zu rechtfertigen, bedurfte schon einiger Akrobatik.
Bereits im Jahr 2013 forderten Wissenschaft und Verbände eine Reform der Verzinsung von Steuerzahlungen, ifSt-Schrift Nr. 490, 213, Bundessteuerberaterkammer KdöR, Institut der Wirtschaftsprüfer in Deutschland e. V. (IDW) Bankenverband, BDI – Bundesverband der Deutschen Industrie e. V. usw. Aber die Rufe blieben ungehört.
Was passierte auf Seiten des Gesetzgebers und die an der Gesetzgebung beteiligten Organe? Die FDP stellte am 6.6.2018 einen Antrag, um die Bundesregierung aufzufordern, einen Gesetzentwurf einzubringen, den Zinssatz für Nachzahlungszinsen zeitnah und realitätsgerecht nach unten zu korrigieren und dabei eine Koppelung an einen Referenzzinssatz zu prüfen. Der erfolglose Antrag basierte auf der Argumentation, dass der extrem niedrigere Marktzins eine Absenkung des Zinssatzes für Nachzahlungszinsen geboten erscheinen lasse. Die Länder Hessen und Bayern starteten Initiativen im Bundesrat. Am 4.7.2018 die Initiative von Bayern, den Antrag zur Entschließung des Bundesrats zur Absenkung des gesetzlichen Zinssatzes auf 0.25% pro Monat. Der Gesetzesantrag von Hessen den Nachzahlungszinssatz ab 2017 zu senken stammt vom 8.8.2017. Der wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages begründete am 16.2.2017 Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit für Veranlagungszeiträume nach 2011 (WD 4 – 3000 -011/17, S. 11). Dies wiederholte der wissenschaftliche Dienst im Deutschen Bundestag 2019 (WD 4 – 3000 – 126/19, S. 12). Alle Initiativen blieben erfolglos.
Und die Finanzverwaltung? Erst mit Schreiben vom 2.5.2019 ordnete das BMF (BStBl. I, 448) die Vorläufigkeit der Zinsfestsetzungen mit dem sog. Vorläufigkeitsvermerk an.
Nun setzte das Bundesverfassungsgericht den Schlussstrich unter diese Frage. Was lässt sich aus dieser Entscheidung folgern? Zum einen, dass in der Sache nun endlich entschieden wurde. Zum anderen, dass der Rechtsstaat funktioniert und das Bundesverfassungsgericht als Hüter des Rechtsstaates seiner Rolle gerecht wurde. Allerdings legt die Entscheidung auch eine Ignoranz des Steuergesetzgebers offen. Wäre es rechtsstaatlich nicht geboten gewesen auf die Entwicklung der sinkenden Zinssätze zu reagieren? Schließlich war für jedermann sichtbar, dass sich so schnell keine Änderung der Situation einstellen wird. Spätestens nach der Erhebung von sog. Negativ- oder Strafzinsen bestand endgültig Klarheit, dass der Zinssatz von 6% p. a. nicht mehr haltbar war. Insofern legt das Urteil eine gewisse Blindheit der Verfassungsorgane offen, scheinbar immer wenn es ums Geld geht, d. h. wenn der Staat auf Einnahmen verzichten muss. Für die Akzeptanz des Rechtsstaates wäre es gut, wenn die Verfassungsorgane aus eigener Initiative verfassungswidrige Zustände beseitigten und nicht immer erst auf das Bundesverfassungsgericht warteten!
Professor Dr. iur. Michael Stahlschmidt lehrt an der FHDW Paderborn Steuerrecht, Rechnungswesen und Controlling und ist Ressortleiter des Ressorts Steuerrecht des Betriebs-Berater und Schriftleiter Der Steuerberater, Frankfurt am Main/Medebach.