Tarifrunden und die damit verbundenen Forderungen der Tarifpartner lösen regelmäßig kontroverse Debatten aus. Aktuelles Beispiel ist die IG Metall, die trotz stagnierender Wirtschaft eine Lohnerhöhung von 7% verlangt. Bei einer Inflationsrate von voraussichtlich rund 2% bedeutete dies eine Reallohnsteigerung von 5%. Ein solches Ansinnen wäre verständlich, würde die Metallindustrie anders als der Rest der Wirtschaft boomen. Das ist aber nicht der Fall. Die IG Metall räumt selbst ein, dass die Produktion in der Branche gegenüber dem Vorjahr um 7% gesunken sei und die Aufträge zurückgehen. Sie verweist zugleich auf die Wirkung steigender Löhne auf die Kaufkraft und die gesamtwirtschaftliche Nachfrage. Die Arbeitgeber halten dem entgegen, die Löhne in der Metallindustrie seien in den vergangenen Jahren schneller gestiegen als die Produktivität. Nun gelte es, eine Gefährdung des Produktionsstandorts Deutschland durch zu hohe Lohnkosten zu verhindern.
Nachfrageimpuls durch höhere Löhne?
Löhne haben in einer Volkswirtschaft vielfältige Effekte: Sie beeinflussen die Kaufkraft, die gesamtwirtschaftliche Nachfrage, die Bereitschaft zu arbeiten und die Arbeitsnachfrage der Unternehmen. Das Kaufkraftargument betrifft dabei weniger die Interessen einzelner Branchen. Für die Metallindustrie etwa, die einen Großteil ihrer Produktion exportiert, spielt die heimische Kaufkraft eine untergeordnete Rolle.
Gesamtwirtschaftlich ist das anders. Allerdings erhöhen steigende Löhne die Nachfrage nur dann, wenn die Beschäftigten das zusätzliche Geld auch ausgeben. Zu Beginn dieses Jahres bauten Konjunkturprognosen darauf, dass der Anstieg der Reallöhne den Konsum ankurbeln würde.
Doch Fehlanzeige – die Verbraucher legten einen Großteil des zusätzlichen Einkommens auf die hohe Kante. Offenbar sorgen sich die Menschen um ihre zukünftigen Einkommensperspektiven. Insofern relativiert sich das Argument der Kaufkraftimpulse durch steigende Löhne. Und wenn hohe Tarifsteigerungen dazu führen, dass Jobs unsicherer werden, kann das die Konsumnachfrage sogar schwächen.
Einfluss der Löhne auf den Arbeitsmarkt
Höhere Löhne beeinflussen auch das Arbeitsangebot. In Zeiten des Arbeitskräftemangels können sie dazu beitragen, die Knappheit zu lindern. Das setzt allerdings voraus, dass sich steigende Löhne wirklich in höheren Nettoeinkommen niederschlagen. Gerade in unteren Einkommensbereichen ist das in Deutschland nicht immer der Fall. Denn bei steigenden Einkommen werden nicht nur Steuern und Abgaben fällig, es fallen auch Sozialtransfers wie das Wohngeld weg. Je nach Familienkonstellation kann es passieren, dass mehr als 90% zusätzlicher Lohneinkommen durch Steuern, Abgaben und entfallende Transfers aufgefressen werden. In diesem Fall kommen steigende Löhne in erster Linie der Staatskasse zugute. Zu erhöhter Arbeitsbereitschaft bei den Beschäftigten führt das nicht, sondern eher zu Frustration.
Wie aber verhält es sich mit dem Einwand, dass steigende Löhne die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen beeinträchtigen und sie dazu bringen, vermehrt im Ausland zu investieren? Das Argument trifft dann nicht zu, wenn Arbeitskräfteknappheit herrscht und Betriebe zum herrschenden Lohn gerne mehr Arbeitskräfte einstellen würden als verfügbar sind.
Lohnentwicklung und Wettbewerbsfähigkeit
Ob die Lohnentwicklung Jobs gefährdet, lässt sich auch daran messen, ob die Löhne schneller steigen als die Arbeitsproduktivität. Der Befund: Im gesamtwirtschaftlichen Durchschnitt waren die Reallöhne in Deutschland 2023 sogar etwas niedriger als im Vorkrisenjahr 2019. Doch auch die Produktivität ist seitdem leicht gefallen. Mithin hat sich die Lohnentwicklung der vergangenen Jahre trotz aller krisenbedingten Turbulenzen an der Produktivitätsentwicklung orientiert. Da die Investitionen der Unternehmen derzeit deutlich niedriger sind als 2019, ist allerdings damit zu rechnen, dass die Arbeitsproduktivität weiter sinkt. Das spricht gegen einen großen Schluck aus der Pulle.
Fakt ist: In einer stagnierenden Wirtschaft besteht für Lohnzuwächse über einen Inflationsausgleich hinaus wenig Spielraum. Die Vorstellung, der Kaufkrafteffekt höherer Löhne könne die Stagnation überwinden, überzeugt schon deshalb nicht, weil die wirtschaftliche Unsicherheit dazu führt, dass höhere Einkommen zu einem erheblichen Teil in die Ersparnisse fließen.
Das weiß auch die IG Metall. Bislang lag eine Stärke der deutschen Tarifpartnerschaft darin, dass Gewerkschaften in wirtschaftlich schwieriger Lage oft maßvoll agierten. Mit einer 7%-Forderung in Verhandlungen zu gehen, heißt nicht, dass auch so abgeschlossen wird. Es dürfte am Ende erheblich weniger für die Metaller herauskommen.