(BT-Drs. 20/8095 vom 23. August 2023)
Schreiben an Frau Elisabeth Winkelmeier-Becker, MdB, Vorsitzende des Rechtsausschusses. Inhalt des Schreibens:
(…) aus Sicht der Bundessteuerberaterkammer sind die in dem Gesetzentwurf vorgesehenen Anpassungen der zivilprozessualen Grundlagen für den Einsatz von Videokonferenztechnik weitestgehend zu begrüßen. Sie ermöglichen eine flexible, ressourcenschonende und im internationalen Vergleich überfällige Nutzung von Videoverhandlungen (§ 128a ZPO-E) und Videobeweisaufnahmen (§ 284 Abs. 2 ZPO-E) in der deutschen Zivil- und Fachgerichtsbarkeit. Der verstärkte Einsatz von Videokonferenztechnik kann zu einer effizienteren Verfahrensführung beitragen, Verfahren beschleunigen und damit das Bild einer modernen und bürgernahen Justiz fördern.
Für die praktische Umsetzung des Gesetzes sind u. E. jedoch noch erhebliche Investitionen in die digitale und technische Infrastruktur der Gerichte erforderlich. Derzeit fehlt es der deutschen Justiz an Grundlegendem, um einen bundeseinheitlichen Standard für Videokonferenztechnik gewährleisten zu können. Häufig sind – entgegen der Feststellungen auf Seite 40 des Entwurfs – weder ausreichende Internetbandbreiten, leistungsstarke und moderne Hardware in Form von PC‘s, Kameras und Mikrophonen noch datensichere Softwareanwendungen vorhanden. Damit Videoverhandlungen bzw. hybride Verhandlungen die gleiche rechtsstaatliche Qualität wie Präsenzverhandlungen gewährleisten können, müssen die Gerichte daher zunächst flächendeckend mit verlässlicher Hard- und Software ausgestattet werden.
Um bundesweit einheitliche Standards zu gewährleisten, sollten zudem die Anforderungen an die Videokonferenztechnik klar definiert werden. Die Systeme müssen nutzerfreundlich und praktikabel sein sowie höchsten IT-Sicherheits- und Datenschutzstandards genügen. Es bedarf zudem einer Schulung des Gerichtspersonals und IT-technischer Unterstützung durch die Justizverwaltungen.
Parteianträge auf Videoverhandlungen werden derzeit von den Gerichten oftmals ohne Angabe von Gründen abgelehnt. Insoweit ist es positiv zu bewerten, dass der Entwurf neben einem Anordnungsrecht des Vorsitzenden in § 128a Abs. 2 und 5 ZPO-E auch eine Stärkung der Stellung der Prozessparteien in Bezug auf Videoverhandlungen vorsieht. Aus Sicht der Bundessteuerberaterkammer wäre eine weiterreichende Regelung, die einen prozessrechtlichen Anspruch verankert, wünschenswert. Das vorgesehene Einspruchsrecht des Adressaten gegen die Anordnung einer Videokonferenz jedenfalls ist ausdrücklich zu begrüßen.
Positiv zu bewerten ist auch, dass der Entwurf eine Verordnungsermächtigung zur Erprobung vollvirtueller Videoverhandlungen vorsieht, die dem Gericht auch Verhandlungen von einem anderen Ort als der Gerichtsstelle aus ermöglichen soll. Die Ermächtigung sollte von den Ländern genutzt und durch praktikable Regelungen ein hoher Output aus der Testphase angestrebt werden. Die Erprobungsphase sollte dabei auch die Urteilsverkündung umfassen, wenn diese im unmittelbaren Anschluss an die mündliche Verhandlung erfolgen kann (vgl. auch Stellungnahme des Bundesrates vom 7. Juli 2023, vgl. BT-Drs. 20/8095 S. 88).
Anmerkungen im Einzelnen
Die in dem Entwurf vorgesehenen gesetzlichen Rahmenbedingungen für den Einsatz von Videokonferenztechnik weisen in die richtige Richtung. Damit praktisch von den Regelungen Gebrauch gemacht werden kann, bedarf es jedoch dringend der Implementierung der erforderlichen technischen Ausstattung in den Gerichten und der Präzisierung der datenschutzrechtlichen Aspekte. Unsere diesbezüglichen Hinweise lauten wie folgt:
1. Allgemeine Anforderungen an die Videokonferenztechnik
Aus Sicht der Bundessteuerberaterkammer bedarf es einer Definition der Anforderungen an die Videokonferenztechnik, die höchsten Ansprüchen gerecht werden muss. Die flüssige Übertragung von hochauflösenden Videosequenzen erfordert den Down- und Upstream von großen Datenmengen, die mit den derzeit in der Justiz vorhandenen Internetanschlüssen nicht flächendeckend bewältigt werden können. Die Internetkapazitäten- bzw. Bandbreiten sind dementsprechend aufzurüsten.
Damit es allen Prozessbeteiligten möglich ist, den jeweils Sprechenden zu sehen und diesem folgen zu können, sollte zudem grundsätzlich die Installation von mehreren (ggf. per Einstellung manuell oder automatisiert wechselbaren) Kameras erfolgen. In der derzeitigen Videoverhandlungsführung wird aus dem Berufsstand vielfach bemängelt, dass die anwesenden Prozessparteien bzw. deren Bevollmächtigte meist nur von der Seite und am Bildrand zu sehen sind. Dies stellt nach dem Beschluss des BFH vom 18. August 2023 (Az.: IX B 104/22 (NV)) ferner auch eine Verletzung des rechtlichen Gehörs dar, wenn Mimik und Gestik der Personen aufgrund einer Videoverhandlung nicht erkennbar sind. Denn es muss während einer Videoverhandlung für alle Verfahrensbeteiligten die nonverbale Kommunikation aller anderen Verfahrensbeteiligten wahrgenommen werden entsprechend der einer mündlichen Verhandlung unter Anwesenden. Erforderlich sind u. E. daher professionelle Kamerasysteme, die aus verschiedenen Winkeln in hochauflösender Bildqualität aufnehmen oder übertragen können. Nur dadurch kann die Mimik und auch die Gestik aller Verfahrensbeteiligten eingefangen werden. Gleiches gilt für die Ausstattung mit Mikrophonen.
Den Beteiligten und der Sitzungsleitung sollte das Teilen des jeweils genutzten Bildschirms sowie das Einspielen von Videos und Ton (etwa zur Beweiserhebung und -führung i. S. d. § 284 Abs. 2 ZPO-E) ermöglicht werden. Wichtig ist, dass das Gerichtspersonal entsprechend technisch geschult wird, damit ein möglichst reibungsloser Ablauf in der jeweiligen Verhandlung gewährleistet ist und alle Beweiserhebungsmöglichkeiten gleich einer regulären Präsenzverhandlung ausgeschöpft werden können. Insoweit gebietet es der fair-trial-Grundsatz, dass die Prozess- und Verfahrensbeteiligten alle ihnen durch das jeweilige Prozessrecht gegebenen Möglichkeiten auch im Rahmen einer Videoverhandlung wahrnehmen können.
Die Einrichtung sog. Breakout-Rooms ermöglicht es der Sitzungsleitung, die verschiedenen Anwesenden ggf. zu separieren und zwischenzeitlich des Raumes zu verweisen. Denkbar ist dies etwa bei Zeugen oder Sachverständigen, die (zunächst) von der Hauptverhandlung/mündlichen Verhandlung getrennt und erst später nach etwaiger Belehrung vernommen werden sollen. Es muss bei der Nutzung der Breakout-Rooms unbedingt technisch sichergestellt werden, dass Zeugen oder Sachverständige keine Möglichkeit haben, sich vor Aufruf durch die Sitzungsleitung in den virtuellen Gerichtssaal einzuwählen.
Das Videokonferenzsystem sollte eine „Meldefunktion“ für Anmerkungen bei Redebedarf beinhalten. Dies ist derzeit bereits in einigen Softwareanwendungen in Form der Betätigung eines Hand-Symbols möglich. Die Sitzungsleitung kann dann dem jeweiligen Teilnehmer das Wort erteilen. Ungebetene Zwischenrufe oder Störungen können so bereits vorweg ausgeschlossen werden, weil das Sprechen stets die entsprechende Worterteilung voraussetzt.
Wichtig ist u. E. die Implementierung von Zulassungskontrollen. Die Einwahl sollte nur mit einer im Programm hinterlegten Mailadresse und einem vorher vergebenen Passwort möglich sein. So kann der Gefahr einer nicht autorisierten Nutzung effektiv begegnet werden. Darüber hinaus muss die Möglichkeit der Identitätskontrolle bei datenschutzrechtlich relevanten Gesprächen durch die Sitzungsleitung bestehen (z. B. über einen digitalen Personalausweis oder ein anderes entsprechendes Legitimationsmedium). Bei Steuerberatern wäre hier sinnvollerweise an die mit der Implementierung der Steuerberaterplattform geschaffene persönliche, digitale Identität anzuknüpfen. Es muss dabei ausgeschlossen werden können, dass eine Zuschaltung ausschließlich per Telefon bzw. Ton durch andere Personen erfolgt.
Der Nutzer muss sich schnell in dem angebotenen Videokonferenztool zurechtfinden und dieses stabil und unterbrechungsfrei nutzen können. Ebenso sollte keine zusätzliche Software installiert werden müssen, die Videokonferenz vielmehr aus dem Browser heraus ausgeführt werden können. Eine Nutzung sollte zudem auch über mobile Geräte, wie Smartphones bzw. Tablets, erfolgen können.
Neben dem Komfort der Nutzung ist aufgrund der Vielzahl von Anwendungen von Bedeutung, dass das verwendete Videokonferenztool interoperabel ist. Dies bedeutet, dass eine Verknüpfung mit anderen im Kontext verwendeten Lösungen gegeben sein muss. Hierzu gehört etwa eine Verknüpfung von Terminkalender und Videokonferenzsystem dahingehend, dass mit einer Terminvereinbarung unmittelbar der notwendige Link übermittelt werden kann. Auch die Möglichkeit, über die Software Dokumente und Links zu teilen oder in gemeinsamen Dokumenten zu arbeiten, erhöht den Nutzen.
2. Datenschutzrechtliche Aspekte
Die Justiz muss bei der Schaffung eines bundeseinheitlichen Standards ein Datenschutzniveau gewährleisten, das höchsten Anforderungen genügt. Auf Seite 53 der Gesetzesbegründung wird diesbezüglich lediglich ausgeführt, dass sich die Datenschutz- und Datensicherheitsanforderungen an die für eine Videoverhandlung genutzte Technik unmittelbar aus Art.
24, 25 und 32 DSVGO ergeben. Unseres Erachtens sollten hier weitere Konkretisierungen erfolgen.
Die Justiz als auch der jeweilige Betreiber der Videokonferenzsoftware müssen klare und eindeutige Informationen über die mit der Nutzung des Dienstes verbundene Datenverarbeitung zur Verfügung stellen. Den Nutzern muss vollumfänglich klar sein, welche Daten für welche Zwecke verarbeitet werden, bzw. wo die Verarbeitung stattfindet und wie lange die Daten gespeichert werden. Außerdem muss der Betreiber darüber informieren, ob und ggf. welche externen Dienstleister (Auftragsverarbeiter i. S. v. Art. 28 DSGVO) er selbst nutzt und an welche anderen Stellen Daten weitergegeben werden. Hierbei ist es wichtig, dass bei Anbietern mit Sitz außerhalb der EU die Anwendung von Standardvertragsklauseln zum Tragen kommt.
Die Verbindungsdaten der Kommunikation (z. B. Kommunikationsteilnehmer, Zeitpunkt, Geräte- und Standortdaten) dürfen nur solange und soweit verarbeitet werden, wie es für die Übermittlung von Nachrichten durch einen Dienstleister oder im Rahmen einer notwendigen Dokumentation erforderlich ist. Bestenfalls sind Dienste zu bevorzugen, die es ermöglichen, die Verarbeitung personenbezogener Daten einzuschränken oder gar ganz auszuschließen.
Hier ist kritisch zu hinterfragen, welche Datenverarbeitung für die jeweiligen Dienste tatsächlich überhaupt erforderlich ist und diese auf ein mögliches Minimum zu reduzieren. Im Falle einer Datenübermittlung in sog. Drittländer (d. h. außerhalb des Geltungsbereichs der DSGVO) muss die Übermittlung durch geeignete Garantien gesichert sein.
Auch der Betreiber des Videokonferenzdienstes muss eine hohe Datensicherheit gewährleisten. Diese kann durch eine sichere Nutzer-Authentifizierung und Verschlüsselung der Kommunikationskanäle sowohl bei der Vermittlung der Verbindungen als auch bei der Übertragung von Ton- und Bilddaten (idealerweise über eine Ende-zu-Ende-Verschlüsselung) erreicht werden. Je nach Sensibilität der Daten sollten die eingesetzten Endgeräte über einen wirksamen Zugriffschutz verfügen (z. B. PIN-Schutz oder biometrische Lösungen). Der interne Speicher der Geräte sollte durch Verschlüsselung so geschützt werden, dass eine Entschlüsselung die Kenntnis der Anmeldedaten voraussetzt.
Es ist über die konkrete Regelung des § 128a Abs. 4 Satz 1 und 2 ZPO-E hinaus unbedingt sicherzustellen, dass bei den eingesetzten Videokonferenzsystemen das Risiko eines unbefugten Mithörens oder Mitschneidens durch Dritte oder Konferenzteilnehmer selbst ausgeschlossen ist. Auch etwaige behördliche Aufzeichnungspflichten des Betreibers rechtfertigen keinesfalls Mitschnitte und sind daher zu unterbinden. Um einen Mitschnitt des Betreibers von vornherein gänzlich auszuschließen, sollte daher auf die o. g. Ende-zu-Ende-Verschlüsselung zurückgegriffen werden. Diese Regeln gelten umso mehr für nichtöffentliche Verhandlungen.
Es ist unbedingt sicherzustellen, dass die Verhandlung im Videoformat nicht zur Aushöhlung der Persönlichkeitsrechte des Einzelnen führt.
Der Sitzungsleitung müssen weitreichende Eingriffsmöglichkeiten zur Verfügung stehen. Der Videokonferenzdienst muss es daher ermöglichen, sowohl Inhaltsdaten (Chat-Transkripte, Audio- und Videoaufzeichnungen, geteilte Dateien oder Screenshots usw.), Metadaten (Teilnehmer eines Meetings oder einer Session) als auch Bestandsdaten (Benutzerkennungen, Namen, Kontaktinformationen usw.) gezielt oder allgemein zu löschen. Er sollte zudem über die Möglichkeit verfügen, eine Frist festzulegen, nach der solche Daten automatisiert gelöscht werden.
Es ist ferner sicherzustellen, dass die Bildung von Benutzerprofilen durch den Videokonferenzdienst bzw. deren Auswertung oder anderweitige Nutzbarmachung (durch den Anbieter bzw. Dritte) gänzlich ausgeschlossen ist.
Auch der sog. Datenschutz im weiteren Sinne sollte bei der Ausarbeitung des Konzepts berücksichtigt werden. Darunter sind solche Maßnahmen zu verstehen, die dazu geeignet sind sicherzustellen, dass Nutzer durch ihr Verhalten nicht gegen bestehende Regelungen verstoßen. Diese Überlegungen basieren auf dem Konzept des „desire path“ nachdem sich Anwender stets den für sie bequemsten Weg aussuchen, selbst wenn dieser Risiken birgt. Die Neigung, Risiken aus Bequemlichkeit einzugehen, ist gerade bei Softwareanwendungen besonders ausgeprägt. Die Nutzerfreundlichkeit darf insoweit nicht zu einem Verlust an Sicherheit führen.
3. Zu Art. 6 Nr. 17 b) – Akteneinsicht in elektronische Akten
Der neue § 299 Abs. 4 ZPO-E sieht Regelungen zum Datenschutz bei der Akteneinsicht in elektronische Akten vor. Durch technische und organisatorische Maßnahmen ist von der aktenführenden Stelle und den Einsicht nehmenden Personen sicherzustellen, dass Dritte im Rahmen der Akteneinsicht keine Kenntnis vom Akteninhalt nehmen können. Ausweislich der Gesetzesbegründung sind die Sicherheit der beim Abruf übermittelten Daten und des Datenverkehrs zu gewährleisten sowie Manipulationen oder Änderungen des Akteninhalts selbst zu verhindern. Satz 2 untersagt den Akteneinsicht nehmenden Personen die Veröffentlichung oder Überlassung von Akten oder Akteninhalten an Dritte zu verfahrensfremden Zwecken.
Eine korrespondierende Regelung für die elektronische Akteneinsicht beim Finanzgericht ist in dem Entwurf nicht enthalten. § 78 FGO sollte dementsprechend um eine vergleichbare Datenschutzregelung ergänzt werden.